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Dr. Volker Cihlar erforscht am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), wie ältere Menschen den Übergang in den Ruhestand gestalten, welchen Aktivitäten sie nachgehen und welche Trends sich für die Lebensformen Älterer abzeichnen. Wir haben mit dem Alternsforscher über die Gestaltung des (Un-)Ruhestands in Deutschland gesprochen.
Redaktion Demografieportal: Wenn wir das Erwerbsleben des Menschen betrachten, folgt klassischerweise auf Ausbildung und Erwerbstätigkeit der Ruhestand. Heute hört man öfter vom sogenannten „Unruhestand“. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Volker Cihlar: Beim Übergang in den Ruhestand ist man zum ersten Mal in seinem Erwachsenenleben befreit von jeglicher Rolle. Das ist es, was diesen Zustand unterscheidet von den anderen von Ihnen genannten Phasen, Ausbildung und Erwerbsleben. Ausbildung heißt „Ich muss in die Schule gehen“. Es gibt eine Schulpflicht. Ich muss also etwas tun, sonst werde ich sanktioniert. Bei der Erwerbstätigkeitsphase verhält sich dies genauso. „Ich muss, ich soll arbeiten“. Wenn ich das nicht tue, werde ich durch die Arbeitsagentur aufgefordert, mir einen Job zu suchen.
Jetzt komme ich zu Ihrer eigentlichen Frage. Der Ruhestand hat sich dahingehend entwickelt, dass die Menschen diese „rollenlose Rolle“ sehr viel aktiver oder auch „unruhiger“ gestalten. Die Möglichkeiten hierfür sind heutzutage vielfältiger als noch vor 20 oder 30 Jahren. Sei es, im Ruhestand weiter erwerbstätig zu sein, sich freiwillig zu engagieren bis hin zu körperlicher Aktivität. Unruhestand bedeutet, dass die Ruheständler heute sehr viel aktiver sind als sie das früher waren.
Redaktion: Warum genau sind die Menschen heute aktiver als noch vor 20 Jahren?
Cihlar: In unserer Studie „Transitions and Old Age Potential – Übergänge und Alternspotenziale“ haben wir verschiedene Motive gefunden. Betrachtet man beispielsweise die Erwerbstätigkeit im Ruhestand, so ist der Spaß an der Arbeit ein häufig genannter Grund. Für knapp ein Viertel ist der Spaß das Hauptmotiv, um im Ruhestand weiterzuarbeiten. Hier liegt also das Motiv des Wollens zugrunde. Es gibt aber auch unangenehme Motive. Das kann zum Beispiel eine finanziell prekäre Lage sein. Knapp 20 Prozent geben das als Hauptgrund für eine Erwerbstätigkeit im Ruhestand an. Es gibt durchaus monatliche Haushaltsnettoeinkommen, die unter einer gewissen Grenze liegen. Menschen, die davon betroffen sind, arbeiten dann oft weiter, um den eigenen Lebensunterhalt auch im Ruhestand zu bestreiten. Das wäre dann quasi ein Müssen. Aber das Können hat sich auch positiv verändert.
Redaktion: Was meinen Sie damit?
Cihlar: Menschen bringen heute bessere Voraussetzungen mit, um im Ruhestandsalter aktiv sein zu „können“. Unsere Studie zeigt, dass der Gesundheitszustand ein großer Prädiktor ist für eine Aktivität, für den Unruhezustand. Bin ich körperlich überhaupt in der Lage, mich so zu engagieren? Da sehen wir in den letzten 20 bis 30 Jahren eine große Veränderung. Die Menschen sind sehr viel gesünder und können deswegen auch viel „unruhiger“ sein in ihrem Ruhestand. Natürlich gibt es auch Fälle von schweren bis schwersten Erkrankungen, die Aktivität verhindern. Die Aktivitäten der Ruheständler sind aber auch deshalb mehr geworden, weil die Gelegenheiten vielfältiger geworden sind, zum Beispiel die Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten in den Betrieben. Kurzum, Menschen sind heute aktiver, weil sie es wirklich möchten, aber weil sie es auch vielmehr können als früher.
Redaktion: Der Gesundheitszustand hat sich also grundsätzlich verbessert. Eine bessere Gesundheit kann dann zu vermehrter Aktivität führen, aber nicht jeder will oder kann auch im Ruhestand weiter aktiv sein. Gibt es denn noch den Ruhestand ohne Aktivität oder ist er auf dem Rückzug?
Cihlar: In unseren Studien melden uns die älteren Menschen zurück: Ich bin vor allem deshalb aktiv, um körperlich und geistig fit zu bleiben. Das Aktivitätsspektrum ist dabei auch sehr groß und reicht von fortgeführter Erwerbstätigkeit über Kinderbetreuung, Pflegetätigkeit, Nachbarschaftshilfe bis hin zum klassischen Ehrenamt. Auch Betreuungs- und Pflegetätigkeiten außerhalb der eigenen Familie finden im gewissen Maße statt, so dass man sagen kann, dass eine große Anzahl von Älteren in irgendeiner Form tätig ist. Zu den Ruhestandsplänen gehören aber auch Reisen und das Pflegen von Hobbys. Man kann Tätigkeiten also noch unterscheiden, je nachdem ob sie einen kollektiven Charakter haben oder ob sie vorrangig auf das Individuum selbst gerichtet sind. Die kollektiven Tätigkeiten mit einem Mehrwert für andere und die Gesellschaft scheinen in den letzten Jahrzehnten stärker in den Fokus der Älteren gekommen zu sein.
Somit kann ich Ihre Frage eher bejahen: Ja, der „inaktive“ Ruhestand ist auf dem Rückzug beziehungsweise hat sich in spätere Lebensalter hinein verschoben. Der Ruhestand unserer Großeltern war noch ein ganz anderer als ihn die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer erleben werden, die in den 2020er Jahren verstärkt in den Ruhestand gehen. Das Altern heute ist nicht das Altern von gestern und nicht das von morgen. Die Kohorten zukünftiger Älterer werden sich also wieder stark von den heute Älteren unterscheiden und wieder ein anderes Muster aufweisen.
Redaktion: Seit wann gibt es diesen Wandel hin zu mehr Aktivität im Ruhestand?
Cihlar: Das ist natürlich nicht von heute auf morgen passiert und ist ein gradueller Übergang. Wichtige Faktoren für diese Entwicklung sind ein höheres Maß an Bildung und die bessere medizinische Versorgung. Die Zahlen sind stetig gestiegen. Vor allem bei der körperlichen Aktivität wird es deutlich. Fast jeder zweite befragte Ruheständler ist in irgendeiner Form körperlich aktiv. In den 1950er und 1960er Jahren waren diese Zahlen noch deutlich geringer. Dies trifft auch auf die Erwerbstätigenquoten zu. Laut Eurostat haben sich diese zwischen 2006 und 2016 bei den 65- bis 74-Jährigen mehr als verdoppelt. Gerade in den letzten 10 bis 15 Jahren hat sich viel verändert und da wird sich auch noch einiges tun in den kommenden Jahren.
Redaktion: Vielleicht können wir etwas genauer auf die Aktivitäten schauen. Was tun denn die Menschen in ihrem Unruhestand?
Cihlar: In unserer eigenen Studie haben wir die Jahrgänge 1942 bis 1958 betrachtet. Fast jeder Zweite der über-60-Jährigen ist in irgendeiner Form ehrenamtlich engagiert. Beim Engagement gibt es auch keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern, eher bei der Schulbildung. Diejenigen mit hohen Schulabschlüssen sind sehr viel stärker im Ehrenamt vertreten. Betrachten wir die Erwerbstätigkeit im Ruhestandsalter, gehen laut unseren Ergebnissen noch 22 Prozent einer Beschäftigung nach. Das ist aber eher auf eine kurze Dauer von zwei bis vier Jahren angelegt, aus unterschiedlichen Gründen.
Redaktion: Also nicht nur weil die Menschen im Rentenalter erwerbstätig sein müssen?
Cihlar: Ja, genau. Nicht nur, weil sie es müssen, sondern auch weil sie wollen und können. Natürlich müssen einige auch, aber es gibt vielfältige andere Gründe wie zum Beispiel die Parallelisierung des Lebenslaufs mit dem Partner oder der Partnerin. Der ältere Partner verbleibt dabei noch etwas länger im Job und wartet bis der jüngere Partner auch im Ruhestandsalter ist, um dann gleichzeitig in den Ruhestand zu gehen. Auch deshalb dauert die Erwerbstätigkeit im Ruhestand dann meistens nur 2 bis 4 Jahre. Bei Älteren, die in keiner Beziehung sind, sieht die Motivlage dann wieder etwas anders aus: Deren soziales Netzwerk ist kleiner und sie bleiben auch deshalb sehr viel länger erwerbstätig. Diese Gruppe fokussiert sich offenbar verstärkt auf den Beruf auch noch im Ruhestand als eine Art Kompensation für ein lediglich kleines und nicht familiales soziales Netzwerk.
Redaktion: Gibt es neben dem Ehrenamt und der Erwerbstätigkeit noch andere Bereiche, denen sich ältere Menschen widmen?
Cihlar: Ja, der Pflege und hier häufiger die Frauen. Jede dritte Frau der 60- bis 75-Jährigen in unserer Studie pflegt Familienangehörige. Bei Männern ist es jeder Vierte. Allerdings gibt es enorme Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit. Männer pflegen eher einmal pro Woche, bei Frauen ist es mehrmals pro Woche bis täglich.
Redaktion: Dann gibt es ja noch die Enkelkinderbetreuung. Sind da die Frauen auch stärker involviert als die Männer?
Cihlar: Den Unterschied gibt es auch hier. Beinahe jede zweite Frau und jeder dritte Mann zwischen 58 und 73 Jahren gab in der Studie 2016 an, eigene Enkelkinder zu betreuen. Im Vergleich zu 2013 sind hier keine Unterschiede zu sehen, so dass diese Form der gelebten Generativität stabil zu bleiben scheint. Im Sinne der Reziprozität, der Gegenseitigkeit, ist das eine gute Nachricht, da die Enkelkinderbetreuung von großem Nutzen für alle beteiligten Generationen ist. Das heißt, beide Seiten haben einen Nutzen davon. Die Älteren betreuen die Enkelkinder während die Eltern arbeiten oder Freizeitaktivitäten nachgehen, die Enkel profitieren vom Kontakt zu den Großeltern. Es ist auf jeden Fall eine Entlastung der Kernfamilie und gleichzeitig werden die Großeltern eingebunden, was ihnen die Gelegenheit gibt, durch den Kontakt zu ihren Enkeln das Bedürfnis nach Nähe und den Wunsch gebraucht zu werden auszuleben. Darüber hinaus haben Studien gezeigt, dass es sich auf die Lebensqualität und den empfundenen Lebenssinn für ältere Menschen positiv auswirkt, wenn sie intensiven Kontakt zur Enkelgeneration haben. Unsere Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer melden uns außerdem zurück, dass sie durch die Betreuung geistig und körperlich fitter bleiben.
Redaktion: Das sind doch gute Aussichten für das Miteinander der Generationen in der Zukunft.
Cihlar: Im Prinzip schon, aber dies könnte in Zukunft anders aussehen, da sich die Zusammensetzung der Gesellschaft verändern wird. Momentan beträgt das Verhältnis von potenziellen Enkelkindern und potenziellen Großeltern ungefähr 1:1. Das bezieht sich auf die unter 20-Jährigen und die über 65-Jährigen. Das Verhältnis wird sich in Richtung 1:2 entwickeln, also mehr Ältere und weniger Kinder. Die Situation, dass Großeltern Kinder betreuen können, wird sich verändern. Noch deutlicher wird diese Diskrepanz zwischen Alt und Jung, wenn man sich die über 80-Jährigen und Kinder unter sieben Jahren anschaut. Da wird es im Jahr 2060 mehr als dreimal so viele Ältere wie Jüngere geben.
Redaktion: Interessant. Dann kommt ja sicherlich noch hinzu, dass die Großeltern oft nicht in derselben Stadt wohnen wie die Enkelkinder.
Cihlar: Genau, auch dies wird sich in Zukunft verstärken. Die räumliche Distanz zwischen den Generationen ist bereits größer geworden und wird wahrscheinlich noch größer werden.
Redaktion: Was kann diese Entwicklung auffangen?
Cihlar: In der Zukunft, vielleicht in 20 oder 30 Jahren, würden wir von Einrichtungen profitieren, in denen die ältere Generation und die junge Generation sich treffen können, um miteinander Zeit zu verbringen. Auch wenn sie vielleicht gar nicht miteinander verwandt sind, das ist für mich keine zwingende Voraussetzung. Aber diese Form der Interaktion der Generationen könnte man vielleicht institutionalisieren. Das heißt, mit Bedacht und sehr viel Fingerspitzengefühl Institutionen zu erschaffen, in denen sich ältere und jüngere Generation begegnen können. Mehrgenerationenhäuser sind hier ein erster Schritt, aber in Zukunft könnten auch noch andere Formate Schule machen. Den Bedarf wird es auf jeden Fall geben.
Redaktion: Wie kann die Politik unterstützen?
Cihlar: Was die Politik geben kann, sind Handlungsräume. Die politische Theoretikerin Hannah Arendt hat bereits betont, dass Handeln vor allem im öffentlichen Raum stattfinden muss. Also, dass Menschen davon profitieren, dass sie handeln, dass sie sich zeigen können. Der Mensch möchte sich einbringen, möchte aktiv sein, möchte wirksam sein und das nicht nur privat sondern auch im öffentlichen Raum. Davon profitieren Gesellschaft und Individuum gleichermaßen. Und diesen öffentlichen Raum zu gestalten, das könnte im Hinblick auf Alternspolitik die große Querschnittsaufgabe für die Politik sein.
Redaktion: Können sie das noch genauer beschreiben, wo gibt es konkrete Ansatzpunkte?
Cihlar: Wir haben folgende Situation unter den Befragten in unserer Studie: Menschen, die nicht ehrenamtlich engagiert sind, obwohl sie dies wollen, sagen uns oft „Ich sehe die Möglichkeit nicht“ oder „Ich bin nicht gefragt worden“. Oder wenn es um Erwerbstätigkeit geht, gibt es einige, die gerne im Ruhestand erwerbstätig wären, aber sagen „Es funktioniert nicht, weil es die Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten einfach nicht gibt“. Hier könnte die Politik beispielsweise Unternehmen unterstützen, die Möglichkeiten für Ältere schaffen. Sogenannte „individual deals“ könnten auf der organisatorischen Seite eine förderwürdige Idee sein, also auf Ältere individuell angepasste Jobs. Natürlich kann ein älterer Erwerbstätiger nicht immer einfach das weiterarbeiten, was er 40 Jahre lang zuvor gemacht hat. Da benötigt die Arbeitsstelle dann einen anderen Zuschnitt, der sich an Fähigkeiten und Wünschen des Arbeitnehmers orientiert. Es gibt einfach mehr und auch sehr heterogene Erwerbswünsche von Älteren als man sie derzeit befriedigen kann. Diese Möglichkeiten sollten geschaffen werden und die Menschen darüber hinaus entsprechende Informationen erhalten.
Dabei geht es nicht nur um Beschäftigungsmöglichkeiten in der Erwerbsarbeit, die speziell auf ältere Menschen zugeschnitten sind, sondern auch um ehrenamtliche Tätigkeiten, Angebote für körperliche Aktivität oder den Bereich der ambulanten Pflege. Und das meine ich mit Querschnittsaufgabe für die Politik, ein Gestalten des öffentlichen Raums für Ältere.
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