Springe direkt zu:
Am 4. Dezember 2018 trafen sich im oberpfälzischen Cham Vertreterinnen und Vertreter der Region mit Akteuren des Bundes, aus Bayern und aus zwei anderen Bundesländern. Am Beispiel des Landkreises Cham diskutierten sie über die Mobilität in ländlichen Räumen und konkrete Handlungsansätze. Die Veranstaltung war der erste von vier Demografiedialogen mit dem Schwerpunkt „Regionen stärken – Disparitäten verringern“, die zu unterschiedlichen Themen im Rahmen der Umsetzung der Demografiestrategie der Bundesregierung stattfinden.
Bild / Video 10 von 21
Damit eine Region lebenswert ist und bleibt, ist neben Arbeitsplätzen vor allem eine gute Daseinsvorsorge wichtig. Auch im hintersten Dorf brauchen die Menschen Zugang zu Schulbildung, Haus- und Fachärzten, Lebensmitteln und Friseuren. Insbesondere dünn besiedelte Regionen wie der bayerische Landkreis Cham stehen vor der Herausforderung und Frage, wie dieser Zugang gewährleistet und verbessert werden kann.
Auf dem Land sind viele Einwohner mit dem Auto mobil, auch deshalb ist das Angebot des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) spärlich. In kleineren Orten fährt der Bus oft nur zweimal am Tag und am Wochenende gar nicht. Vor allem junge und ältere Menschen sind aber darauf angewiesen. Daher sind zunehmend flexible und alternative Angebote gefragt. Diese können auch so aussehen, dass die Dienstleistung oder Ware zum Bürger kommt. Zudem bietet die Digitalisierung neue Möglichkeiten und kann manchen Weg ersparen. Beim Demografiedialog in Cham wurden zahlreiche Initiativen vorgestellt, Erfahrungen ausgetauscht und auch über Erfolge und Hindernisse gesprochen.
Anhand von Praxisbeispielen soll über die Chancen der demografischen Entwicklung im demografisch heterogenen Deutschland diskutiert und sollen übertragbare Ansätze zur Stärkung der Regionen sichtbar gemacht werden. Anknüpfungspunkte sind dabei die spezifischen Herausforderungen der Region, die Gastgeber für den Dialog ist. Dabei soll mindestens eine weitere Region als Partner und Vorbild dienen, die eine ähnliche Situation vor Ort, aber idealerweise schon Lösungen oder Ansätze hierfür gefunden hat.
Die vom Demografiereferat im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat initiierte Veranstaltung im Workshop-Format hatte rund 30 geladene Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Darunter waren mehrheitlich lokale Akteure aus dem Bereich Mobilität, unter anderem Fachvertreter des Landratsamtes, Bürgermeister aus dem Landkreis, der im Landkreis gewählte und im Verkehrsausschuss sitzende Bundestagsabgeordnete Karl Holmeier, Vertreter des Jugendrats und Seniorenbeirats sowie Busunternehmer. Als Experten unterstützten die beiden Moderatoren des Demografiedialogs, René Kämpfer vom IGES Institut und Dr. Bernd Buthe vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, sowie Dr. Bastian Wick vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur den Dialog. Auch Vertreter von zwei Regionen des 2018 abgeschlossenen Modellvorhabens „Langfristige Sicherung von Versorgung und Mobilität in ländlichen Räumen“, der Landkreise Holzminden in Niedersachsen und Ostprignitz-Ruppin in Brandenburg, beteiligten sich am Erfahrungsaustausch. Am Stand des Demografieportals konnten sich alle Teilnehmer über weitere Praxisbeispiele zur Mobilität in ländlichen Räumen informieren.
Video: Landkreis Cham – Herausforderung Mobilität im demografischen Wandel
In Cham wurden vor allem am Beispiel der Gesundheits- und Nahversorgung verschiedene Praxisbeispiele und Möglichkeiten kontrovers diskutiert. Einige Beispiele sollen im Folgenden kurz genannt werden:
Seit 2009 ist in der Regelversorgung der Gesetzlichen Krankenversicherungen verankert, dass ärztliche Tätigkeiten auf speziell geschulte Praxismitarbeiter delegiert werden können. Das Konzept soll Ärzte in unterversorgten Gebieten entlasten und so einen größeren Patientenstamm ermöglichen. Die weitergebildeten Pflegefachkräfte oder medizinischen Fachangestellten erheben bei Hausbesuchen zum Beispiel Patientendaten oder beraten Patienten zu gesundheitlichen Themen. Zudem können sie eine wichtige Grundlage für telemedizinische Dienstleistungen sein. In Cham wurde jedoch angemerkt, dass manche Ärzte dem AGnES-Konzept aufgrund der Haftungsfrage skeptisch gegenüber stehen.
Das Konzept rollender Supermärkte, die Lebensmittel und andere Produkte direkt zu den Kunden bringen, hat sich laut den Teilnehmern des Demografiedialogs in vielen ländlichen Regionen nicht bewährt. Die Bevölkerung sei nicht bereit, den höheren Preis zu bezahlen. Mobile Erwerbstätige versorgen sich lieber in den Zentren, in denen sie oft auch arbeiten. Und viele immobile Menschen lassen sich durch Verwandte und Nachbarn versorgen. Dadurch ist die Nachfrage in den Dörfern gering. Auch bei der Lieferung von Waren nach Hause lohnt sich der „letzte Kilometer“ für Unternehmen oft nicht.
Erfolgreicher scheinen Einzelhändler zu sein, die – teils in Kooperation mit Busunternehmen – wöchentlich ältere Menschen in der Umgebung einsammeln. Dieses Modell soll sich aber auch nur für einen begrenzten Umkreis lohnen, so dass vom Einzelhändler weit entfernte Dörfer nicht einbezogen werden. In einigen Regionen wird der organisierte Einkauf damit verbunden, dass sich die Senioren in einem bereitgestellten Raum treffen und austauschen können.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgen Pflegedienste, die in einzelnen Orten Tagespflegestationen anbieten und Pflegebedürftige aus den umliegenden Dörfern dorthin fahren. In diesem Zusammenhang wurden bei der Diskussion über verschiedene Handlungsansätze wiederholt Bedenken bezüglich der Vereinbarkeit mit dem Personenbeförderungsgesetz geäußert. Allerdings wird das Gesetz regional oft unterschiedlich ausgelegt. Auch sind mobile Lösungen generell unproblematisch, sofern das gegebenenfalls für Fahrten berechnete Entgelt die Betriebskosten nicht übersteigt. Dr. Bastian Wick vom Bundesverkehrsministerium machte zudem deutlich, dass die Bundesregierung an einer Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes arbeitet und diesbezüglichen Anregungen aus den Kommunen offen gegenüber steht.
In einem potenziellen Konflikt mit dem Personenbeförderungsgesetz steht ferner der Ansatz, Menschen oder Gegenstände durch ambulante Pflegedienste oder andere Dienstleister, die sowieso in der Region unterwegs sind, transportieren zu lassen. Bei den Pflegediensten im Landkreis Cham sei eine Realisierung auch deshalb schwierig, weil diese in der Regel mit sehr kleinen Fahrzeugen unterwegs sind und ohnehin viel Arbeitsmaterial dabei haben müssen.
In ihrer Begrüßungsrede zum Demografiedialog stellte die Erste Bürgermeisterin der Kreisstadt Cham, Karin Bucher, die provokante These auf, dass der individuelle Verkehr unattraktiver werden muss, damit der ÖPNV eine Chance hat. In diesem Zusammenhang wurde darüber diskutiert, wie man Menschen zum Umstieg auf den ÖPNV bewegen kann.
Ein im Landkreis Cham sehr intensiv genutztes Angebot ist die Gästekarte. Urlaubsgäste in einigen Gemeinden können während ihres Aufenthalts kostenlos den ÖPNV im Landkreis nutzen. Die starke Nutzung der über die Kurtaxe finanzierten Karte soll auch damit zusammenhängen, dass Touristen das Gefühl haben, für den ÖPNV schon bezahlt zu haben. Diesbezüglich kam die Frage auf, ob ein kostenloser Nahverkehr für die Einwohner auch deren Bereitschaft zur Nutzung erhöhen würde.
Die Teilnehmer des Workshops waren sich einig, dass ein weit verbreitetes Problem des ÖPNV ferner sei, dass viele Einwohner das vorhandene Angebot gar nicht kennen. Vielerorts gibt es im ländlichen Raum schon flexible Angebote wie beispielsweise Rufbusse, Bürgerbusse, Anschlusstaxen oder vereinzelt auch Mitnahmebänke. Dr. Bernd Buthe meinte diesbezüglich, dass Menschen oft erst durch einen Bruch in ihrer Biographie ihre Mobilität überdenken. Bei einem Umzug würden sie sich am neuen Wohnort über alle Mobilitätsmöglichkeiten informieren, während sie sonst eher an Bewährtem festhalten.
Große Chancen, die Mobilität auf dem Land besser und effizienter zu gestalten, bietet die Digitalisierung. So können zum Beispiel Rufbusse per App angefordert und anhand des aktuellen Bedarfs eine optimale Route geplant werden. Zudem bietet sich die Möglichkeit zur besseren Vernetzung unterschiedlicher Mobilitätsarten und zum Teilen von Fahrzeugen. Allerdings muss der Zugang für alle Menschen sichergestellt werden. Nicht jeder hat ein Smartphone oder kann damit umgehen. Deshalb muss es immer auch alternative Wege für die Information und Buchung geben.
Kritisch diskutiert wurde in Cham auch die ÖPNV-Planung. Für die Attraktivität des ÖPNV sei es beispielsweise schlecht, wenn der stündliche Stadtbus gerade dann am Bahnhof abfährt, wenn die Bahn einfährt. Es wurde ferner angeregt, größere Unternehmen in die Planung mit einzubeziehen. Dann würden vielleicht auch mehr Pendler den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Bislang orientieren sich die Abfahrtzeiten auf dem Land häufig zu einem großen Teil am Bedarf der Schüler.
Allgemein wurde wiederholt angemerkt, dass in Deutschland überzogenes Qualitätsdenken innovative Lösungen verhindere. Als Beispiele seien nur das Personenbeförderungsgesetz, die Standards der Daseinsvorsorge oder Haftungsfragen von Ärzten genannt.
An einem Beispiel aus dem Modellvorhaben „Langfristige Sicherung von Versorgung und Mobilität in ländlichen Räumen“ zeigte Dr. Bernd Buthe vom BBSR auf, dass jede Region anders ist und teils andere Lösungen braucht. Während sich Jugendliche im baden-württembergischen Landkreis Sigmaringen einen Partybus wünschten (wie er im Landkreis Cham bereits existiert), sei dieser im Landkreis Schleswig-Flensburg nicht gewollt gewesen. Die Jugendlichen dort haben sich selbst so organisiert, dass beispielsweise 18-Jährige gegen ein kleines Entgelt 16-Jährige mit zur Disco nehmen und sich dadurch ihren Führerschein finanzieren. Zwei Jahre später fahren die heute 16-Jährigen dann selbst die dann 16-Jährigen. Ein Discobus hätte dieses Finanzierungsmodell zerstört.
Auch Mobilitätsforscher René Kämpfer erläuterte am Beispiel der Ärzteversorgung im Landkreis Cham, dass zunächst detailliert der regionalspezifische Bedarf ermittelt werden muss. So liegt der Versorgungsgrad bei Hausärzten im Landkreis Cham auf den ersten Blick aktuell leicht über dem Bundes- und Landesdurchschnitt. Ein Blick auf die Altersstruktur und die regionale Verteilung der Hausärzte offenbart aber große zukünftige Herausforderungen. Und manche Fachärzte sind schon heute erst im weit entfernten Regensburg zu finden.
Die Vertreter der Landkreise Holzminden und Ostprignitz-Ruppin lobten das Modellvorhaben „Langfristige Sicherung von Versorgung und Mobilität in ländlichen Räumen“. Dadurch sei es ihnen möglich gewesen, Ansätze und Ideen zu versuchen, die ohne die Unterstützung nicht möglich gewesen wären. Viele Projekte setzen sich zwar langfristig nicht durch, wie auch die regelmäßigen Evaluationen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung zeigen. Es sind aber auch einige erfolgreich und leisten einen Beitrag dazu, gleichwertige Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen zu gewährleisten.
Cookies erleichtern die Bereitstellung unserer Dienste. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. Weitere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den folgenden Link: Datenschutz
OK