Zusammenfassung des Praxisdialogs „Digitale Dörfer“
Welches Potenzial bietet die Digitalisierung für die Daseinsvorsorge in ländlichen Regionen? Vom 15. Februar bis 31. März 2016 wurde diese Frage im Praxisdialog „Digitale Dörfer“ auf dem Demografieportal diskutiert. Den Auftakt der Diskussion bildete die Verbandsgemeinde Betzdorf im Westerwald, eine von zwei rheinland-pfälzischen Testregionen im Projekt „Digitale Dörfer“ des Fraunhofer IESE. Sie erprobt die Vernetzung klassischer „Dorfläden“ mit smarter Technologie, um auch in Zukunft die Nahversorgung für die Bürger vor Ort zu sichern. Fragen konnten direkt mit dem Bürgermeister von Betzdorf Bernd Brato diskutiert werden. In 17 Beiträgen und Kommentaren wurden Fragen gestellt, aber auch aus der Praxis von digitalen Projekten in anderen Regionen berichtet.
Was bedeutet die Digitalisierung für die Daseinsvorsorge im ländlichen Raum?
In seinem Auftaktbeitrag beschreibt Bernd Brato die Auswirkungen des demografischen Wandels, mit denen sich auch seine Region auseinandersetzen muss: Leerstand in der Innenstadt, Ärztemangel, eine zunehmend ältere Bevölkerung und Abwanderung von Fachkräften. Er setzt auf digitale Anwendungen für die Zukunftsfähigkeit seiner Gemeinde im nördlichen Rheinland-Pfalz.
„Das Projekt ‚Digitale Dörfer‘ ist eine große Chance aufzuzeigen, wie durch Einsatz von Digitalisierung und Bürgerengagement unsere Region rund um Betzdorf lebenswerter gestaltet werden kann und einen Gegentrend zum demografischen Wandel zu setzen, den wir vor Ort immer mehr zu spüren bekommen“, so Bernd Brato zum Start des Praxisdialogs. „Mithilfe der Digitalen Dörfer-App wird das Angebot des Einzelhandels in der Verbandsgemeinde Betzdorf gebündelt und online verfügbar gemacht werden, so dass Waren bei teilnehmenden Geschäften bestellt werden können. Diese Pakete wiederum können durch ehrenamtliche Helfer nach Hause oder an eine Paketstation geliefert werden – das ist Nachbarschaftshilfe 2.0.“
Seine Hoffnungen konnten bestätigt werden. Der Bürgermeister wertete die erste dreiwöchige Testphase mit 258 Lieferungen von 45 freiwilligen Helfern als vollen Erfolg. Überrascht habe ihn die hohe Beteiligung der über 60-Jährigen und die Entwicklung eigener „Communities“ der Bürger, so Bernd Brato in seinem Fazit.
„All das zeigt: Der soziale Aspekt ist der integrale Bestandteil jeder technologischen Innovation. Darauf gilt es nun weiter aufzubauen. […] Die aktuellen Szenarien bilden erst den Anfang als Grundlage für Erweiterungen von der telemedizinischen Versorgung bis zum autonomen Fahren, und schaffen gerade für ältere Menschen einen Mobilitätsgewinn.“
(Bernd Brato, Bürgermeister der Stadt und Verbandsgemeinde Betzdorf)
Nicht nur ältere Menschen profitieren vom Ausbau der Digitalisierung in den Regionen, den die Bundesregierung mit einem flächendeckenden Breitbandausbau bis 2018 und dem E-Health-Gesetz von 2015 unterstützt. Im Hinblick auf die Attraktivität des ländlichen Raums stellen auch die Jugendlichen eine besondere Gruppe dar. Aus der Arbeitsgruppe „Jugend gestaltet Zukunft“ wird im Dialog von ersten Ergebnissen zum Arbeitsschwerpunkt „Gelingendes Aufwachsen in ländlichen Regionen“ berichtet.
„Unsere Erfahrungen nach mehreren Sitzungen der AG in beteiligten Landkreisen belegen, dass der Breitbandausbau, dass schnelles Internet eine ganz wesentliche, wenn nicht die entscheidende Bedeutung für die Attraktivität ländlicher Regionen haben.“
(Caren Marks, Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Jugend gestaltet Zukunft“ der Demografiestrategie)
Ein weiteres Potenzial der Digitalisierung wird im Rückgang der Abwanderung aus ländlichen Regionen gesehen. Wenn in Zukunft durch einen guten Breitbandanschluss immer mehr Menschen von zu Hause aus arbeiten, könnte dies die Abwanderung in städtische Regionen abschwächen, so die Vermutung.
Regionale Attraktivität und aktive Impulse – auch von Seiten der Bürgerinnen und Bürger – gelte es zu stärken, so die übereinstimmende Meinung der Diskussionsteilnehmer zum Ziel digitaler Vorhaben. Auch die Bundesregierung hat sich dem Thema mit der Arbeitsgruppe „Regionen im demografischen Wandel stärken – Lebensqualität in Stadt und Land fördern“ im Rahmen ihrer Demografiestrategie angenommen.
Können digitale Angebote die Nachbarschaftshilfe im ländlichen Raum ersetzen?
Nein, so die mehrheitliche Antwort im Praxisdialog. Digitale Angebote seien nur als Ergänzung zur „echten“ Nachbarschaftshilfe zu verstehen. Digitalisierung der Daseinsvorsorge könne nicht ohne gleichzeitiges nachbarschaftliches Engagement funktionieren. Dies war auch eine Erfahrung, die in Betzdorf gemacht wurde.
„All die Digitalisierung kann im Alltag gut unterstützen, aber die reale Hilfe durch Menschen nicht vollständig ersetzen. Deshalb bleibt der wichtigste Baustein bei der Sicherung der Daseinsvorsorge der Mensch. Neben den nützlichen digitalen Angeboten und technischer Unterstützung braucht die Gesellschaft weiterhin Nachbarschaftshilfen.“
(Ulrich Weinbrenner, Stabsleiter Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Bundesministerium des Innern)
Die Digitalisierung sei insbesondere für die Teilhabe von älteren Menschen beispielsweise im Bereich der Telemedizin von großer Relevanz. Digitale Angebote können vernetzen, aber auch begrenzen. Besonders ältere Personen gestalten die letzte Phase ihres Lebens ohne digitale Angebote. Daher ist die Förderung eines selbstbestimmten Lebens im Alter besonders wichtig, unabhängig von Stadt oder Land. In der Diskussion wird jedoch darauf verwiesen, dass ältere Menschen oft Schwierigkeiten in der Nutzung von Smartphones und Tablets haben und hier Handlungs- und Schulungsbedarf besteht. Zudem könnten sie oftmals mit den Begriffen „E-Health“ und „Smarthome“ nichts anfangen. Daher gelte es, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, die jeder versteht wie zum Beispiel durch die Initiative „Wir versilbern das Netz“.
„Digitale Nutzung in unserer modernen Zeit verbindet in vielfältiger Weise - Alt und Jung, Alt und Alt. Es ersetzt nicht, sich in Bewegung zu begeben, um anderen Menschen zu begegnen, zu kommunizieren.“
(Elvira Barbara Sawade)
Ein Kommentar sieht das Problem nicht im demografischen, sondern allgemein im gesellschaftlichen Wandel. Demnach muss ein soziales und gesundes Miteinander wieder gefördert werden, da ansonsten kommende Generationen stärker voneinander entfernt statt zusammen leben. Auch digitale Angebote können diesen Effekt nicht verhindern.
Wie wird digitale Daseinsvorsorge regional umgesetzt?
Digitalisierung kann die Daseinsvorsorge in den Kommunen verbessern. Zudem spart sie auch Kosten, so eine Erfahrung aus der im Praxisdialog vorgestellten Machbarkeitsstudie „Gigabit Region Rheingau-Taunus 2015 - 2025/2030“ des Rheingau-Taunus-Kreises. Sie ist ein Praxisbeispiel der Digitalen Strategie 2025 des Bundeswirtschaftsministeriums und der hessischen Digitalstrategie.
„Aufgrund einer Glasfaserinfrastruktur können positive steuerliche Sekundäreffekte sowie ein bedeutender gesellschaftlicher Gesamtnutzen in vielfacher Millionenhöhe in Euro durch die Etablierung intelligenter Netze und neuer digitale Dienste und Anwendungen erzielt werden.“
(Achim Staab, Projektleiter Breitbandausbau/Digitale Entwicklung, Kreisausschuss des Rheingau-Taunus-Kreises)
Ein wichtiges Ergebnis war, dass der Digitalisierungsgrad in Unternehmen, Verwaltungen und Haushalten sowie der Bandbreitenbedarf im Kreisgebiet in den kommenden 5 bis 10 Jahren stark ansteigen wird. Kurzfristig lohne sich ein hochleistungsfähiges Breitbandnetz für Unternehmen und öffentliche Einrichtungen, für die privaten Haushalte müssten durch neue digitale Anwendungen und Dienste neue Nutzen und Mehrwerte generiert werden. Bereits 85 Prozent des Kreisgebietes sind mit Breitband von 50 Mbit/s ausgestattet, es gehe nun zunächst darum, die ausstehende Lücke zu schließen. In vielen Anwendungsfeldern seien Wertschöpfungspotenziale zu erwarten: Gesundheit, Öffentliche Verwaltung, Produktion, Tourismus, Land- und Weinwirtschaft, Mobilität sowie Energie.
Das Potenzial der Digitalisierung im Bereich Energie beziehungsweise intelligenter Energienetze wird auch in der nordrhein-westfälischen Region Nordlippe gesehen. Sie hat sich mit ihrer Entwicklungsstrategie 2014 bis 2020 beim LEADER-Auswahlverfahren des NRW-Programmes „Ländlicher Raum“ erfolgreich beworben. In den kommenden Jahren werden energieeffiziente Lösungen erarbeitet und der breiten Öffentlichkeit in Form eines „living lab“ (lebendes Labor) aufgezeigt, welche Möglichkeiten hinter intelligenten Netzen stecken können. Dabei geht es im „smart village Dörentrup“ insbesondere um ein Energienetz, welches alle Akteure über ein Kommunikationsnetzwerk verbindet. Gleichzeitig wird der Frage nachgegangen, wie in die bisherigen Siedlungsstrukturen intelligente Energienetze integriert werden können. Auch die Vorteile für Unternehmen werden in einem Gewerbegebiet als Musterareal, der „smart industrial area“ geprüft.
Alle Beiträge und Kommentare können weiterhin nachgelesen werden. Was ist Ihrer Meinung nach wichtig für eine funktionierende digitale Daseinsvorsorge auf dem Land? Haben Sie Erfahrungen gemacht, die noch nicht im Praxisdialog aufgegriffen wurden?
Wir freuen uns auf Ihre Kommentare!
Yvonne Eich und das Redaktionsteam des Demografieportals