Digitale Daseinsvorsorge – neue Chance für den ländlichen Raum?
Ländliche Räume stehen bei der Sicherung der Daseinsvorsorge und der Digitalisierung gerade im demografischen Wandel vor großen Herausforderungen. Warum nicht beide Themen zusammendenken? Das geht – und zwar nicht nur in der Theorie. Auf der Fachtagung „Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Infrastruktur und Daseinsvorsorge“ diskutierten am 19. November 2015 im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) etwa 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre nationalen und internationalen Erfahrungen aus der Praxis. Fazit des Tages: Andere Länder sind schon viel weiter als Deutschland, wenn es zum Beispiel um die medizinische und pflegerische digitale Versorgung geht. Die gute Nachricht: Digitale Anwendungen in der Daseinsvorsorge sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch.
Voraussetzung für digitale Daseinsvorsorge ist die Verfügbarkeit von leistungsfähigem Internet. Die Breitbandversorgung in Deutschland variiert jedoch stark zwischen Stadt und Land.
Breitbandverfügbarkeit in Deutschland
Breitbandausbau: Deutschland steht nicht schlecht dar
Laut dem Breitbandatlas war Mitte 2015 in Deutschland der städtische Raum vollständig mit einem Internetzugang von mindestens 2 Mbit/s versorgt und immerhin 97 Prozent des ländlichen Raums. Größere Unterschiede zwischen Stadt und Land zeigen sich jedoch bei der Versorgung mit höheren Bandbreiten. So verfügen zwar 85 Prozent der städtischen Gemeinden derzeit über Anschlüsse von mindestens 50 Mbit/s, aber nur 26 Prozent der ländlichen Gemeinden.
Mit der Digitalen Agenda (2014 - 2017) habe die Bundesregierung die Grundlage für schnelles Internet von 50 Mbit/s bis 2018 gelegt, betonte Birgit Breitfuß-Renner, Leiterin der Unterabteilung Raumordnung, Lärm- und Umweltschutz, Demografischer Wandel im BMVI, bei der Eröffnung der Fachtagung. Für den flächendeckenden Ausbau dieser Bandbreite stellt der Bund den Kommunen 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung. Die aktuelle Situation sei darüber hinaus gar nicht so schlecht: Im EU-Vergleich hat Deutschland die größte Dynamik im Breitbandausbau.
Was kann Deutschland von anderen Ländern lernen?
In der Studie „Schnelles Internet in ländlichen Räumen im Vergleich“ wurden acht Länder untersucht, die sich als Ideengeber für den Breitbandausbau in Deutschland eignen: Dänemark, Estland, Finnland Frankreich, Schweiz, Südkorea, die USA und das Vereinigte Königreich. Erste Ergebnisse der noch unveröffentlichten Studie präsentierte Michael Arnold von DIW Econ. Sie zeigen, dass es keinen „goldenen Weg“ für die Versorgung und Nutzung von Breitbandinternet in ländlichen Regionen gibt. In den untersuchten guten Praxisbeispielen dominieren meist regionale Ausbaustrategien, die von Gemeinden vorangetrieben werden.
Projekt „Glasfasernetz Oberwallis“Quelle: Michael Arnold, DIW Econ
Dabei werden die Gemeinden häufig selbst unternehmerisch aktiv und bauen – in Zusammenarbeit mit Unternehmen wie lokalen Stromversorgern – die notwendige Infrastruktur aus, zum Beispiel in der Schweiz und Dänemark. In diese öffentlich-privaten Kooperationen bringen sie über gemeindeeigene Unternehmen sowohl Fördermittel als auch den Zugang zu passiver Infrastruktur ein. Ein Projekt von 70 Gemeinden in der Schweiz, das Glasfasernetz Oberwallis, sei besonders beeindruckend, da es sich um ein Solidarmodell und ein gutes Beispiel interkommunaler Zusammenarbeit handelt, so Arnold. Daran zeige sich, dass der Erfolg der Projekte auch stark vom politischen Willen und „Vorantreibern“ in den Gemeinden abhängt.
Diskussion zur Digitalisierung der Infrastruktur und DaseinsvorsorgeQuelle: Hochschule Neubrandenburg
Die fehlende Zusammenarbeit von Kommunen beim Breitbandausbau in Deutschland scheint auch den Ausbau der digitalen Daseinsvorsorge zu hemmen, so ein Fazit der anschließenden Diskussion.
Da sind andere Länder schon weiter, berichtete Prof. Dr. Gabi Troeger-Weiß vom Lehrstuhl für Regionalentwicklung und Raumordnung an der TU Kaiserslautern. Nicht alles lässt sich digital regeln, schränkte sie ein. Allerdings könne die Digitalisierung einen erheblichen Beitrag zur Daseinsvorsorge leisten und damit auch für die Sicherung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, so ihr Fazit. In den internationalen Beispielen habe man es zudem verstanden, Digitalisierung als Imagefaktor zu nutzen.
Für den ländlichen Raum in Deutschland werden neben der medizinischen Versorgung (E-Health) auch große Potenziale bei digitalen Anwendungen in den Bereichen E-Government, E-Learning, E-Schooling oder auch Telearbeit sowie Mobilität gesehen. Prof. Dr. Gabi Troeger-Weiß wies auf wichtige Forschungsergebnisse hin: Neben Arzt, Schule und Supermarkt wird schnelles Internet immer wichtiger für die Wahl des Wohnortes und somit immer mehr zum Standortfaktor für schrumpfende Regionen.
E-Health in Schweden
Madeleine BlusiQuelle: Hochschule Neubrandenburg
Madeleine Blusi, Leiterin der Forschungs- und Entwicklungseinheit des Kommunalverbandes der schwedischen Provinz Västernorrland, berichtete von ihrem erfolgreichen Projekt der pflegerischen digitalen Daseinsvorsorge in Nordschweden. Vor dem Hintergrund, dass im ländlichen Raum in Schweden heute bereits 80 Prozent der Pflegebedürftigen durch die Familienangehörigen versorgt werden, betonte Blusi die Wichtigkeit von unterstützenden Technologien. Ohne diese Personen könnte der in Zukunft noch steigende Pflegebedarf gerade in Abwanderungsregionen nicht finanziert werden. Die stationäre Betreuung sei schlichtweg zu teuer und darüber hinaus ließen sich nicht genügend Fachkräfte für abgelegene Regionen anwerben.
In 15 ländlichen Gemeinden wurden ältere pflegende Angehörige, die meist technisch unerfahren waren, mit einem Computer und einer Webcam ausgestattet. Damit sollten nicht nur die Pflegeleistungen etwa durch die Kontaktaufnahme mit der zuständigen Gemeindekrankenschwester verbessert werden, sondern darüber hinaus Möglichkeiten für einen persönlichen Austausch entstehen. Einfach, aber doch wirkungsvoll, wie sich herausstellte. Die im Durchschnitt 76 Jahre alten pflegenden Angehörigen, meist die Ehe- oder Lebenspartner, nahmen die neuen digitalen Möglichkeiten schnell an. Sie berichteten nach Ende des Projekts nicht nur von einem Informationszugewinn für ihre Pflegearbeit. Sie fühlten sich durch die Anbindung an die digitale Welt ferner befähigt, wieder aktiver an der Gesellschaft teilzuhaben. Durch die Webcam konnten sie beispielsweise auf eine neue Art mit weiter entfernten Verwandten und Freunden kommunizieren.
Neues E-Health-Gesetz in Deutschland
Solche Projekte im Bereich E-Health wie in Schweden sind auch für Deutschland denkbar. Allerdings zählen telemedizinische Behandlungen durch den Arzt meistens noch nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung und werden deshalb selten angewendet, so Prof. Dr. Bertram Häussler vom IGES Institut in Berlin. Grund ist auch das sogenannte Uno-actu-Prinzip, das besagt, dass Arzt und Patient zum Zeitpunkt der Behandlung am selben Ort sein müssen. Doch dies wird sich nun ändern. Das E-Health-Gesetz wurde am 3. Dezember vom Bundestag verabschiedet. Neben der Etablierung einer Telematikinfrastruktur für sichere Kommunikation im Gesundheitswesen sieht das Gesetz unter anderem auch die Förderung telemedizinischer Leistungen vor. Die telekonsiliarische Befundbeurteilung von Röntgenaufnahmen wird ab April 2017 und die Videosprechstunde ab Juli 2017 in die vertragsärztliche Versorgung aufgenommen – eine große Chance für die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum.
Smart rural areas als Zukunftskonzept für Deutschland?
Abschlussvortrag von Dr. Mario Trapp
Für Dr. Mario Trapp, Hauptabteilungsleiter Embedded Systems vom Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE, stand bei seinem abschließenden Vortrag außer Frage, dass ländliche Räume die Chancen der Digitalisierung intensiv nutzen werden. Allerdings müssen die smart rural areas Orte sozialer Interaktion bleiben, die reale Welt sollte „cool, bequem und sicher gemacht werden“.
Dr. Mario TrappQuelle: Hochschule Neubrandenburg
Er stellte das Projekt „Digitale Dörfer“ vor, das Teil des strategischen Forschungsprogramms „Smart rural areas“ des Instituts ist. Mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologie werden Konzepte entwickelt, um die Tendenzen der Abwanderung gerade junger Menschen in größere Städte und Ballungsgebiete umzukehren, ländliche Regionen und Dörfer wieder stärker zu beleben und für ihre Bewohner, ob jung oder alt, attraktiv zu halten. Im Februar 2016 startet die erste Testphase in der Verbandsgemeinde Betzdorf, einer von zwei Testregionen in Rheinland-Pfalz. Das Besondere an dem Projekt ist die Kombination aus realen Testphasen in den „Digitalen Dörfern“ und IT-gestützten Simulationen virtueller Konzepte am Fraunhofer-Institut. Die Bereiche Mobilität und Logistik stehen hierbei im Vordergrund.
Die Entwicklung der digitalen Dörfer kann auf Twitter mitverfolgt werden. Die Verbandsgemeinde Betzdorf berichtet dort über ihre Erfahrungen als Testregion. Über den Projektverlauf twittert das Projekt „Digitale Dörfer“.
Hintergrund
Hintergrund
Im Rahmen des Projekts „Internationale Erfahrungen“ des Modellvorhabens der Raumordnung (MORO) wurden im Jahr 2014 drei internationale Informations- und Erfahrungsaustausche durchgeführt, in denen Vertreterinnen und Vertreter der 21 Modellregionen des Aktionsprogrammes innovative Strategien und Projekte zur Sicherung der Daseinsvorsorge in Niederösterreich (Österreich), Graubünden (Schweiz), Südtirol (Italien) sowie Västernorrland (Schweden) kennenlernten. Zur Vertiefung und weiterführenden Diskussion dieses Themenbereichs fand während der bundesweiten Projektwerkstatt des Aktionsprogrammes regionale Daseinsvorsorge die Fachtagung „Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Infrastruktur und Daseinsvorsorge“ am 19. November in Berlin statt.
Alle internationalen Beispiele sowie länderspezifische Regelungen zur Daseinsvorsorge und Hintergrundinformationen sind in der Broschüre MORO Praxis „Regionale Daseinsvorsorge in Europa – Beispiele aus ländlichen Regionen“ dargestellt.
Leben Sie auch in einem digitalen Dorf oder würden Sie dies gerne?
Wir freuen uns über Ihre Kommentare!
Yvonne Eich und das Redaktionsteam des Demografieportals
Cookies erleichtern die Bereitstellung unserer Dienste. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. Weitere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den folgenden Link: Datenschutz