Dr. Sabine Diabaté: „Familienleitbilder sind vielfältig und bedeutsam für die Familienentwicklung“
Wie stellen sich Menschen in Deutschland eine „normale“ Familie und das „ideale“ Familienleben vor? Was gilt als „normal“ und wünschenswert und wie beeinflussen diese Vorstellungen die Familiengründung und das Familienleben? Diese Fragen beantwortet die bundesweite Studie „Familienleitbilder in Deutschland“. Die Ergebnisse der repräsentativen Studie wurden jetzt in einem Buch veröffentlicht. Im Interview mit der Redaktion des Demografieportals beschreibt die Leiterin der Studie, Dr. Sabine Diabaté, die Vorstellungen junger Menschen zwischen 20 und 39 Jahren von Familie und Familienleben.
Dr. Sabine Diabaté, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
Redaktion Demografieportal: Was sind Familienleitbilder?
Sabine Diabaté: Familienleitbilder sind Vorstellungen davon, wie Familienleben normalerweise aussieht oder idealerweise aussehen sollte. Diese Vorstellungen können sich auf die Familie im Allgemeinen beziehen. Zum Beispiel: „Eine Familie hält immer zusammen“ oder „Familie, das ist ein verheiratetes Paar mit Kindern“. Sie können sich aber auch auf einzelne Aspekte des Familienlebens beziehen, etwa auf Elternschaft (zum Beispiel: „Ideal sind zwei Kinder – ein Junge und ein Mädchen“) oder auf die Familienbiografie (zum Beispiel: „Bevor man heiratet, sollte man eine Weile zusammengewohnt haben“). Oft sind die Vorstellungen bildhaft. Wir malen uns in Gedanken aus, wie eine „normale Familie“ aussieht. Häufig sind uns die Leitbilder unbewusst. Das heißt, wir tragen manche davon in uns, ohne jemals reflektiert zu haben, ob Familie nicht auch ganz anders aussehen könnte. Und das alles lernen wir bereits in unserer Herkunftsfamilie.
Redaktion Demografieportal: Wie bestimmen Familienleitbilder nun das Leben jedes Einzelnen?
Sabine Diabaté: Familienleitbilder sind wichtige Orientierungspunkte, an denen wir unser Verhalten und unsere Lebensplanung ausrichten, das heißt sie sind einer von mehreren wichtigen Faktoren, um zu erklären, warum sich einige Menschen für und andere gegen Kinder entscheiden und wie die Menschen ihr Familienleben alltäglich gestalten.
Redaktion Demografieportal: Was stellen sich die 20- bis 39-Jährigen unter einer Familie vor?
Gemaltes Bild einer Familie
Sabine Diabaté: Hinsichtlich der Frage, was eine Familie sei, haben die Menschen ein im Kern einheitliches Leitbild im Kopf. Wir haben den Teilnehmern unserer Studie verschiedene Lebensformen vorgestellt, zum Beispiel Alleinerziehende oder Paare ohne Kinder, und sie dann gefragt, ob es sich aus ihrer Sicht jeweils um eine Familie handelt. Nahezu alle Befragten stimmten zu, dass eine Kernfamilie, bestehend aus einem zusammenwohnenden heterosexuellen Paar mit Kindern, eine Familie sei. Die Beurteilung der übrigen Lebensformen scheint sich an ihrer Ähnlichkeit zur Kernfamilie zu orientieren. Allerdings gelten für die meisten Menschen auch viele nichtkonventionelle (das heißt von der Kernfamilie abweichende) Lebensformen als Familie, vor allem dann, wenn Kinder darin leben. Daraus schließen wir, dass es eine große Akzeptanz der Vielfalt von Familienformen gibt.
Redaktion Demografieportal: ... und wenn keine Kinder in der Familie leben?
Sabine Diabaté: Ein knappes Drittel sieht in jeder Lebensgemeinschaft eine Familie, auch ohne Kinder und ohne Trauschein. Die Bewertung variiert nach der sozialen Lage der Befragten. Außerdem neigen Menschen dazu, die Lebensform, in der sie selbst leben, eher als Familie wahrzunehmen, als andere Menschen dies tun.
Redaktion Demografieportal: Eigene Kinder zu haben – ist dies noch ein Wunsch der jungen Menschen in Deutschland?
Sabine Diabaté: Eigene Kinder zu haben, das ist den meisten jungen Menschen heutzutage sehr wichtig, 85 Prozent wollen eine Familie gründen. Für Frauen ist dies deutlich wichtiger als für Männer. Nur für einen kleinen Teil sind Kinder unwichtig, die West- und Ostdeutschen unterscheiden sich darin kaum. So kommt zum Ausdruck, dass es bei der allgemeinen Bedeutung von Kindern einen Konsens zwischen den West- und Ostdeutschen gibt, der sich aber aufgrund unterschiedlicher Rahmenbedingungen, wie etwa der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Elternschaft, nicht immer umsetzen lässt.
Redaktion Demografieportal: Was steht dem „Elternwerden“ neben der fehlenden Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch im Weg?
Sabine Diabaté: Unsere Ergebnisse legen nahe, dass ein hoher Druck besteht, als Eltern alles richtig zu machen. Dieser Druck stresst Eltern und kann unter Umständen auch dazu führen, dass junge Menschen sich gut überlegen, ob sie sich auf das Abenteuer Familie überhaupt einlassen wollen.
Redaktion Demografieportal: Kinderlosigkeit ist ein vieldiskutiertes Thema in Deutschland. Unter Akademikerinnen ist sie besonders hoch. Haben Familienleitbilder damit etwas zu tun?
Sabine Diabaté: Auf jeden Fall spielen kulturelle Vorstellungen eine Rolle. Wenn wir Akademikerinnen betrachten, gibt es hier ein ungünstiges Zusammenwirken von hohen Anforderungen, sich sowohl beruflich als auch privat selbst zu verwirklichen. Man spricht dann auch von der „Rushhour des Lebens“, also einem Lebensabschnitt zwischen Ende 20 und Anfang 40, indem alles zusammenkommt: Das bedeutet, wichtige Entwicklungsschritte im Job müssen mit der Familiengründung und Familienerweiterung parallel verwirklicht werden.
Redaktion Demografieportal: Zu was führt diese Entwicklung?
Sabine Diabaté: Sie führt dazu, dass Akademikerinnen ihre Familiengründung tendenziell immer weiter nach hinten schieben, bis es biologisch nicht mehr klappt oder dass sie dadurch lediglich ein Kind bekommen können, obwohl sie sich mehr gewünscht hätten. Manche entscheiden sich auch bewusst gegen Kinder oder bewusst für nur ein Kind, weil sie dadurch die Vereinbarkeit besser gewährleistet sehen.
Redaktion Demografieportal: Was bedeuten Ihre Ergebnisse nun für die Familienpolitik in Deutschland? Welche Empfehlungen können Sie der Politik geben?
Sabine Diabaté: Unsere Ergebnisse zeigen in erster Linie eine große Offenheit von jungen Menschen in Deutschland gegenüber alternativen Lebensformen, die auch als Familie akzeptiert werden. Politische Maßnahmen, die auf die Familie abzielen, sollten diese Realität stärker berücksichtigen und alle Lebensformen, in denen Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, rechtlich gleichstellen. Außerdem kann Politik helfen, unter anderem den Druck auf Eltern zu reduzieren und die Lebensqualität von Menschen zu verbessern, um sie bei der Verwirklichung ihrer Lebensplanung unterstützen. Wir dürfen nie vergessen: Zufriedene Eltern sind auch gute Eltern. Dabei gehören Elternwohl und Kindeswohl untrennbar zusammen.
Redaktion Demografieportal: Wo kann die Politik hier konkret ansetzen?
Sabine Diabaté: Die Politik könnte dabei zum Beispiel noch stärker auf die Qualität von Krippenbetreuung setzen, die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie erleichtern und die finanziellen Spielräume von Familie, egal in welcher Konstellation, vergrößern. Das alles kann schließlich auch die Entscheidung für eigene Kinder attraktiver machen.
Die Studie auf einen Blick
Die Studie auf einen Blick
Von August bis November 2012 wurde eine bundesweite repräsentative Telefonbefragung durch das Meinungsforschungsinstitut TNS Infratest durchgeführt. Insgesamt wurden 5.000 zufällig ausgewählte Personen im Alter zwischen 20 und 39 Jahren befragt. Der Aufbau des Fragebogens gliedert sich in die Fragen nach den persönlichen Vorstellungen einerseits sowie Fragen nach der wahrgenommenen Vorstellung der „Allgemeinheit“ in Deutschland andererseits.
Zentrale Ergebnisse
Elternleitbilder und Wirklichkeit klaffen auseinander
Leitbilder der Elternschaft und Alltagspraxis sind häufig widersprüchlich. So leben immerhin 28,5 Prozent der Befragten, die das komplementäre Elternschaftsleitbild (Vater=Ernährer, Mutter=Hausfrau) ablehnen, dennoch das männliche Alleinverdienermodell. Dies ist vermutlich eine Folge der noch unzureichend ausgebauten Kinderbetreuungsinfrastruktur (besonders in Westdeutschland) sowie der Mechanismen innerhalb der Arbeitswelt, die es Müttern nach Erziehungszeiten erschweren, einen Wiedereinstieg in den Job zu finden.
Leitbild der Elternschaft ist überfrachtet
Es bestehen hohe Ansprüche an die Voraussetzungen und Bedingungen für Elternschaft. So meint ein gutes Viertel der befragten 20- bis 39-Jährigen, dass Eltern ihre eigenen Bedürfnisse komplett hinter die ihrer Kinder zurückstellen sollten. Über die Hälfte der jungen Erwachsenen setzen für die eigene Familiengründung sowohl die materielle Absicherung als auch die berufliche Etablierung der Frau voraus.
Leitbild der guten Mutter – Hoher Erwartungsdruck an Mütter, für die Kinder da zu sein
Die „verantwortete Mutterschaft“ spiegelt den hohen individuellen und gesellschaftlich wahrgenommenen Qualitätsanspruch an Mütter wider. Über drei Viertel der Befragten sind der Ansicht, dass Mütter nachmittags Zeit haben sollten, um ihren Kindern beim Lernen zu helfen. Innerhalb der Gesellschaft nehmen sogar rund 87 Prozent wahr, dass es diese Erwartung an Mütter gibt.
Krippenbetreuung akzeptiert, jedoch im Westen eher ältere Kinder und mit kürzerer Betreuungszeit als im Osten
Externe Betreuung von unter Dreijährigen ist prinzipiell akzeptiert, jedoch im Westen tendenziell erst, wenn Kinder älter sind und seltener ganztags. Offenbar gibt es in einigen Teilen der westdeutschen Gesellschaft ein Akzeptanzproblem gegenüber externer Fremdbetreuung von Kindern unter drei Jahren.
Vatersein heißt ernähren UND erziehen, aber im Alltag droht die Retraditionalisierung
Vor allem Männer glauben heute oft, beides sein zu müssen: Der „klassische“ Vater, der das Familieneinkommen bestreitet, und der „aktive“ Vater, der sich gleichberechtigt in die Betreuung und Erziehung der Kinder einschaltet. Die Vereinbarkeitsproblematik ist demnach auch für Männer ein wichtiges Thema geworden. Jedoch verändern sich durch die Familiengründung häufig die Vaterleitbilder, das heißt Väter und Mütter sehen im Vater dann wieder eher den Familienernährer.
Verantwortete Elternschaft als Barriere für Familiengründung bzw. -erweiterung
Die Ergebnisse verdeutlichen: Je höher das Anspruchsniveau an Elternschaft ist, desto niedriger ist der Kinderwunsch. Dabei erschwert der Wunsch nach Perfektion die Elternschaft. Insgesamt geht daher vom Leitbild der verantworteten Elternschaft ein ungünstiger Impuls für die Geburtenentwicklung in Deutschland aus.
Haben Sie noch weitere Fragen zu den Ergebnissen der Studie?
Nutzen Sie gerne die Kommentarfunktion des Blogs, um Dr. Sabine Diabaté Ihre Fragen zu stellen.
Yvonne Eich und das Redaktionsteam des Demografieportals
Die Broschüre geht der Frage nach, inwieweit sich die Familienleitbilder der Menschen im Zeitraum zwischen 2012 und 2016 verändert haben oder stabil geblieben sind.
Die Studie zeigt Mythen und Legenden rund um das Thema Fertilität auf. Sie stellt für Deutschland, Österreich und die Schweiz dar, was sich in unserer Gesellschaft ändern muss, damit Eltern und Kinder sich wohlfühlen.
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