Soziologe Dr. Andreas Mergenthaler zu den Ergebnissen der neuen BiB-Studie: „Ältere Menschen sind heute aktiver denn je“
In der Bundespressekonferenz am 5. November 2014 hat Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière gemeinsam mit dem Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung Prof. Dr. Norbert F. Schneider die Ergebnisse der repräsentativen BiB-Studie „Transitions and Old Age Potential: Übergänge und Alternspotenziale“ (TOP) vorgestellt. Die Studie untersucht, in welchem Ausmaß die heute 55- bis 70-Jährigen im Erwerbsleben, in der Zivilgesellschaft und der Familie tätig sind.
Im Interview mit der Redaktion des Demografieportals skizziert Studienkoordinator Dr. Andreas Mergenthaler das Leben dieser Altersgruppe. Wer sind sie, was machen sie und wo wollen sie hin?
Soziologe Dr. Andreas Mergenthaler
Redaktion: Was hat Sie bewogen, gerade die Altersgruppe der 55- bis 70-Jährigen in den Blick zu nehmen?
Andreas Mergenthaler: Über den individuellen Umgang der 55- bis 70-Jährigen mit dem Übergang zwischen Erwerbstätigkeit und Ruhestand ist bislang wenig bekannt. Die Altersspanne zwischen 55 und 70 Jahren ist wesentlich durch den Übergang vom aktiven Erwerbsleben in den Altersruhestand geprägt. Wie kein anderes Kriterium markiert der Ruhestand den Beginn der Lebensphase „Alter“. Doch diese vermeintlich klare Grenze ist in den letzten Jahren zunehmend unscharf geworden.
Redaktion: Das ist interessant. Können Sie das genauer ausführen?
Andreas Mergenthaler: Wir beobachten heute – neben den abrupten Wechseln aus einer Erwerbstätigkeit in den Ruhestand – verschiedene Formen des schrittweisen „Hinausgleitens“ aus dem Arbeitsmarkt. Gleichzeitig sind Formen der Weiterführung oder der Wiederaufnahme von Erwerbstätigkeit im Ruhestand hinzugekommen. Ein Phänomen, das in den letzten Jahren in Deutschland immer häufiger zu beobachten ist. Der Eintritt in den Ruhestand wandelt sich somit immer mehr von einem Ereignis zu einem Prozess mit sehr unterschiedlicher Dauer. In diesem Prozess spielen auch individuelle Motive und die Anpassung an den nachberuflichen Lebensabschnitt eine Rolle.
Redaktion: Wie haben Sie diesen Wandel in Ihrer Studie berücksichtigt?
Andreas Mergenthaler: Ganz einfach dadurch, dass wir sowohl Menschen befragen, die sich vor dem Übergang in den Ruhestand befinden als auch solche, die bereits seit einigen Jahren im Ruhestand leben.
Redaktion: Sie haben jetzt die breite Vielfalt des Übergangs in den Ruhestand beschrieben. Was zeichnet diese Lebensphase noch aus?
Andreas Mergenthaler: Neben den Übergängen auf dem Arbeitsmarkt ist die Lebensphase zwischen 55 und 70 Jahren von einschneidenden familialen Ereignissen gekennzeichnet: Die erwachsenen Kinder werden selbstständig und verlassen den elterlichen Haushalt; gleichzeitig steigt das Risiko, dass die eigenen Eltern pflegebedürftig werden. Die individuelle Gestaltung dieser ereignisreichen Lebensphase stellt einen Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses der Studie TOP dar.
Redaktion: In welchen Bereichen sind die heute 55- bis 70-Jährigen aktiv?
Andreas Mergenthaler: 84 Prozent der 55- bis 70-Jährigen üben mindestens eine Tätigkeit am Arbeitsmarkt, in der Zivilgesellschaft oder in der Familie aus. Es handelt sich hierbei um höchst unterschiedliche Tätigkeiten: Das Ehrenamt im Verein gehört ebenso zu den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten wie die Nachbarschaftshilfe oder das Engagement in einer Bürgerinitiative. In der Familie sind es vor allem die Enkel- oder Urenkelbetreuung sowie die Pflege von Angehörigen. Nur eine Minderheit kann oder möchte nicht in einem dieser Bereiche aktiv sein. In aller Regel liegt der Schwerpunkt des Engagements auf einem dieser drei Bereiche.
Redaktion: Wie sieht also die Lebenswirklichkeit der 55- bis 70-Jährigen aus?
Andreas Mergenthaler: Der Alltag älterer Menschen ist durch ein Nebeneinander von Aktivität in einem Lebensbereich und Passivität in anderen Bereichen gekennzeichnet. Daher entsprechen einseitige Vorstellungen eines „aktiven“ oder „passiven“ Alterns nicht der Lebenswirklichkeit der 55- bis 70-Jährigen.
Redaktion: Blicken wir mal ausschließlich auf die Gruppe der befragten Ruheständler: Wie hoch ist der Anteil der Aktiven?
Andreas Mergenthaler: Der Anteil der Menschen, die im Ruhestand erwerbstätig sind, ist in den letzten Jahren gestiegen: Fast jeder vierte Ruheständler im Alter bis 70 Jahren, d. h. Menschen, die eine Altersrente oder -pension beziehen, geht einer Erwerbstätigkeit nach. Dabei beobachten wir große Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Während 29 Prozent der Männer im Ruhestand einer Erwerbsarbeit nachgehen sind es bei den Frauen 18 Prozent. Auch im zivilgesellschaftlichen Bereich sind die Ruheständler stark engagiert: 48 Prozent sind freiwillig bzw. ehrenamtlich engagiert; 42 Prozent leisten Hilfe im Haushalt von Freunden oder Nachbarn. Jeder Vierte pflegt einen Kranken oder einen Erwachsenen mit Behinderung und 39 Prozent betreuen Kinder sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen Familie.
Redaktion: Wie sehen die Lebenspläne der 55- bis 70-Jährigen für die Zukunft aus?
Andreas Mergenthaler: Die Befragten berichten in vielen Bereichen die Absicht, ein Engagement in Zukunft aufzunehmen oder ein bestehendes auszuweiten. So können sich 39 Prozent vorstellen, im Ruhestand einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dieser Anteil wird mit zunehmendem Alter geringer: Unter den Menschen, die eine Altersrente oder -pension beziehen, können sich noch 12 Prozent eine zukünftige Betätigung am Arbeitsmarkt vorstellen.
Redaktion: Und wie sieht es mit der Bereitschaft aus, sich ehrenamtlich zu engagieren?
Andreas Mergenthaler: Es besteht eine hohe Bereitschaft für ein zukünftiges Engagement in der Zivilgesellschaft: 57 Prozent sind bereit, eine neue ehrenamtliche Tätigkeit aufzunehmen. Jeder Zweite kann sich vorstellen, ein bestehendes Engagement auszuweiten. Die Bereitschaft zur Aufnahme oder Ausweitung eines zivilgesellschaftlichen Engagements wird nach dem Eintritt in den Ruhestand etwas geringer.
Redaktion: Was bedeuten Ihre Studienergebnisse nun für die Praxis? Wo gibt es Handlungsbedarf?
Andreas Mergenthaler: Die vielfältigen Lebenspläne und Potenziale der 55- bis 70-Jährigen erfordern stärkere individuelle Einflussmöglichkeiten und eine flexible Gestaltung institutioneller Regelungen sowie der betrieblichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen. Die Politik und die Wirtschaft sollten daher bestehende Barrieren abbauen, welche die Verwirklichung von Tätigkeitsabsichten Älterer erschweren oder sogar verhindern. So könnte ein Raum für die weitere Entfaltung der Potenziale der 55- bis 70-Jährigen geschaffen werden.
Redaktion: Warum ist es so wichtig über die Potenziale Älterer zu sprechen?
Andreas Mergenthaler: Weil sie als Ansatz zur Bewältigung der Folgen des Bevölkerungswandels von großem gesellschaftlichem Wert sind. Außerdem kommen sie auch den Älteren selbst zugute. Zugleich sollte die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft älterer Menschen nicht eingefordert, sondern vielmehr die Vielfalt von Lebensentwürfen anerkannt werden. Hierdurch können Stigmatisierungen eines mutmaßlich „unproduktiven“ Alterns vermieden und die Wahlmöglichkeiten im Sinne eines selbstbestimmten Alterns verbessert werden.
Die Studie auf einen Blick
Die Studie auf einen Blick
Repräsentative Studie „Transitions and Old Age Potential: Übergänge und Alternspotenziale“ (TOP) ist ein Kooperationsprojekt unter der Leitung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung.
Bis März 2013 wurden ca. 5.000 Personen zwischen 55 und 70 Jahren zu Themen wie dem Übergang in den Ruhestand, Altersbildern, Bedeutung von Arbeit sowie formellen und informellen Tätigkeiten befragt.
Zentrale Ergebnisse
84 % der 55- bis 70-Jährigen gehen mindestens einer Tätigkeit im Erwerbsleben, in der Zivilgesellschaft oder in der Familie nach.
Übergang in den Ruhestand und Erwerbstätigkeit
56 % wechseln aus einer Erwerbstätigkeit in den Ruhestand; 44 % der Übergänge erfolgen aus der Form der Nichterwerbstätigkeit, d. h. aus einer Freistellungsphase der Altersteilzeit, aus Arbeitslosigkeit, aus dem Vorruhestand oder einer Erwerbsminderung.
Jeder Zweite zwischen 55 und 70 Jahren übt eine Erwerbstätigkeit aus.
Im Ruhestand sind 23 % der Deutschen erwerbstätig. Männer sind im Ruhestand mit 29 % deutlich häufiger erwerbstätig als Frauen mit 18 %.
39 % der 55- bis 70-Jährigen können sich vorstellen, im Ruhestand erwerbstätig zu sein.
Zivilgesellschaftliches Engagement
Zwei Drittel der Befragten sind bürgerschaftlich engagiert.
57 % können sich vorstellen, in Zukunft ein zivilgesellschaftliches Engagement aufzunehmen.
Familiales Engagement
27 % der 55- bis 70-Jährigen betreuen Kinder innerhalb der eigenen Familie.
Jeder Fünfte pflegt einen Angehörigen.
Haben Sie noch weitere Fragen zu den Ergebnissen der Studie?
Nutzen Sie gerne die Kommentarfunktion des Blogs, um uns Ihre Fragen zu stellen. Die Fragen werden von Dr. Andreas Mergenthaler beantwortet.
Yvonne Eich und das Redaktionsteam des Demografieportals
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