Mobilität als Herausforderung für ländliche Regionen: Ein Überblick
In den ländlichen Kreisen Deutschlands werden mit täglich 42 km pro Person etwa 17 % mehr Kilometer zurückgelegt als in den Kernstädten. Die Verkehrsforscher Prof. Dr.-Ing. Carsten Sommer und Volker Schmitt präsentieren in Ihrem Beitrag aktuelle Zahlen und Fakten, die die Situation vieler ländlicher Regionen beschreiben.
Ein Beitrag von Prof. Dr.-Ing. Carsten Sommer und Volker Schmitt, Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme, Universität Kassel
Die demografischen Veränderungen führen in Deutschland zu sehr unterschiedlichen Entwicklungen in den einzelnen Teilräumen. Viele, insbesondere peripher liegende ländliche Regionen sind von Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung besonders betroffen. Im Gegensatz zu urbanen Räumen werden Rückgänge aufgrund der natürlichen Bevölkerungsentwicklung häufig nicht durch Zuwanderungen kompensiert, sondern im Gegenteil durch Abwanderungen noch verstärkt.
In diesem Zusammenhang prägen insbesondere folgende Prozesse die Situation bzw. Zukunft vieler ländlicher Regionen:
- Die Mobilität vieler Menschen in ländlichen Regionen ist gekennzeichnet durch relativ lange Reiseweiten und eine Fixierung auf den privaten Pkw, wenn sie nicht aus Alters-, Gesundheits- oder sonstigen Gründen an den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) gebunden sind. In den ländlichen Kreisen Deutschlands werden mit täglich 42 km pro Person etwa 17 % mehr Kilometer zurückgelegt als in den Kernstädten. In Gemeinden, in denen weniger als 5.000 Einwohner leben, werden zwei Drittel aller Wege mit dem privaten Pkw zurückgelegt (vgl. „Mobilität in Deutschland 2008“).
- Aufgrund sinkender Einwohnerzahlen nimmt die Zahl potenzieller Nutzer von Infrastruktureinrichtungen ab; Anbieter von Dienst- und Versorgungsleistungen ziehen sich zurück. Beispiele dafür sind die Konzentration von Einkaufsmöglichkeiten oder der „Landärztemangel“. Damit wachsen die zu überwindenden Distanzen, mit negativen Folgen für Umwelt und Klima. Dies kann darüber hinaus zur Folge haben, dass Menschen, die nicht mehr einen Pkw nutzen (können) und deren Wohnorte durch den ÖPNV schlecht erschlossen sind, vermehrt vom gesellschaftlichen Leben exkludiert werden.
- Durch den Rückgang der Schüler, die etwa 60 bis 80 % der gesamten Fahrgastnachfrage stellen, bröckelt das Finanzierungsfundament des ÖPNV aus Fahrgelderlösen und staatlichen Zuschüssen für die Schülerbeförderung. Zudem führt der Trend zu höheren Schulabschlüssen häufig zu einer Konzentration der Schulstandorte und damit längere Schulwege. Dies bedeutet für die öffentliche Hand einen höheren spezifischen Kostenaufwand für die Schülerbeförderung als staatliche Pflichtaufgabe. Die ohnehin geringen Finanzmittel für attraktive Angebote, die in Konkurrenz zum privaten Pkw stehen, werden dadurch weiter verringert.
Das hat auch erhebliche Folgen für den Öffentlichen Personennahverkehr: Durch die geringere Bevölkerungsdichte ist die Verkehrsnachfrage geringer und lässt sich in dünn besiedelten Regionen zudem weniger bündeln. Dies führt zu geringen Kostendeckungsgraden und damit zu hohem Zuschussbedarf durch die öffentliche Hand. (1) Die Folge ist oft eine Abwärtsspirale aus schlechtem öffentlichen Verkehrsangebot und sinkender Verkehrsnachfrage.
Von schlechtem ÖPNV-Angebot betroffen – und damit in ihren Teilhabechancen am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt – sind Menschen ohne eigenes Auto, vor allem Jugendliche und viele ältere Menschen. Exklusion droht zusätzlich durch steigende Mobilitätskosten. (2) Studien gehen von einer überdurchschnittlichen Steigerung der Kosten für die Nutzer aus, und zwar sowohl im Pkw-Verkehr als auch im ÖPNV.
Die Sicherung der Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge sowie der Erhalt bzw. die Erhöhung individueller Mobilitätschancen sind also zentrale Herausforderungen für den ländlichen Raum, um Teilhabe und Lebensqualität zu erhalten. Geringere Mobilitätschancen erhöhen nicht nur die Gefahr sozialer Exklusion, sondern haben auch unmittelbar regionalökonomische und soziale Implikationen, da eine schlechte Erreichbarkeit zur Abwertung des ländlichen Raumes als Wohn- und Arbeitsplatzstandort führt (insbesondere bei Schrumpfungsprozessen).
Viele ländliche Regionen haben die Herausforderungen erkannt und versuchen, mit Kreativität, bürgerschaftlichem Engagement sowie fachlicher und finanzieller Unterstützung neue Konzepte im Verkehrssektor und in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge zu entwickeln und umzusetzen. Neben Pilotprojekten im BMVI-Aktionsprogramm „Modellvorhaben der Raumordnung“ (MORO) gibt es derzeit allein im Personenverkehr eine Vielzahl innovativer Projekte wie beispielsweise „Mobilfalt“ und „Garantiert mobil“ in Hessen, das „Elektro-Bürgerauto Oberreichenbach“, über 200 Bürgerbusse in Deutschland, Carsharing-Initiativen u. ä., die neben dem Ziel der Sicherung der Erreichbarkeit häufig auch Umweltschutzziele verfolgen.
Zudem hat sich die Nutzung aller Verkehrsmittel seit der Verbreitung moderner Informations- und Kommunikationsmedien gewandelt. Von dieser Entwicklung kann seit einigen Jahren auch der ÖPNV profitieren. So ermöglicht insbesondere das mobile Internet beispielsweise personalisierte (Echtzeit-) Fahrgastinformation, aber auch den Kauf von Fahrausweisen. Die Veränderungen im IT-Bereich unterstützen darüber hinaus den Trend „Nutzen statt besitzen“ – und damit Sharing-Angebote und Mitfahrsysteme. (3)
Diese Themen bewegen auch die aktuelle Forschung am Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme der Universität Kassel: Unter anderem wird derzeit im Auftrag des BMVI ein Leitfaden für die Planung des ÖPNV-Angebots in ländlichen Räumen“ erarbeitet, außerdem hat das Fachgebiet die Evaluierung der Pilotphase des Projekts „Mobilität im ländlichen Raum – Mobilfalt“ übernommen und forscht darüber hinaus zu geteilten und vernetzten Mobilitätsdienstleistungen. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt liegt bei der Erhebung, Analyse und Prognose der Verkehrsnachfrage und bei der Ermittlung von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Wirkungen des Verkehrs.
Fußnoten:
(1) vgl. Bertocchi, T.; Weißhand, M.: ÖPNV im ländlichen Raum sichern. In: DER NAHVERKEHR, Ausgabe 11/2011, S. 14-21, Alba Fachverlag, Düsseldorf, 2011
(2) vgl. Hunsicker, F.; Sommer, C.: Mobilitätskosten 2030: Preisauftrieb setzt sich langfristig fort. In: Internationales Verkehrswesen, Heft 4/2012, DVV Media Group, Hamburg, 2012
(3) vgl. Sommer, C.; Mucha, E.: Multimodale Angebote zur Ergänzung des klassischen ÖPNV. In: DER NAHVERKEHR, Ausgabe 06/2013, Alba Fachverlag, Düsseldorf, 2013