„Soziale Einbindung ist in hohem Maße wichtig für die Lebensqualität“Expertinneninterview
Ines Benkert, Referatsleiterin für Familien- und Seniorenpolitik im Thüringer Sozialministerium, spricht im Interview über die Herausforderungen der Einsamkeit im Alter und das Programm AGATHE, die Thüringer Initiative gegen Einsamkeit.
Wie relevant ist das Thema eigentlich in Thüringen? Von wie vielen betroffenen Personen sprechen wir? Können Sie uns hierzu konkrete Zahlen nennen?
Hierzu gibt es keine konkreten Zahlen, die ich benennen könnte. Ich kann Ihnen aber erklären, wie wir auf das Thema aufmerksam wurden: Als wir in meinem Referat im Jahr 2019 den Zweiten Thüringer Seniorenbericht erstellt haben, der die Lebensqualität von Thüringer Bürgerinnen und Bürgern ab 75 Jahren fokussiert, konnten wir erfahren, dass soziale Isolation und Einsamkeit neben verschiedenen anderen Themen häufig als Defizit, vor allem von alleinlebenden älteren Menschen, benannt wurden.
Für ältere Menschen, die allein leben, deren Kinder und Enkel nicht in der Nähe wohnen oder die in Gebieten leben, in denen die Infrastruktur zurückgebaut wurde, aber auch für diejenigen, die aufgrund eingeschränkter Mobilität keine außerfamiliären Netzwerke pflegen können, sind Isolation und Einsamkeit relevante Themen.
Soziale Einbindung ist in hohem Maße wichtig für die Lebensqualität. Die Integration in soziale Netzwerke hilft dabei, dass Menschen vorhandene Angebote kennen und wahrnehmen können. Die Herausforderung besteht also darin, diese alleinlebenden, sozial benachteiligten Personen zu erreichen und bedarfsgerecht zu versorgen, damit eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich ist.
Dabei steht außer Frage, dass die Problematik natürlich auch in einer Partnerschaft auftreten kann, wenn Menschen beispielsweise ihre Angehörigen pflegen und dadurch selbst wenig oder gar keine externen Kontakte wahrnehmen können. Weiterhin handelt es sich hier nicht um ein Problem, welches ausschließlich in ländlichen Räumen auftritt. Auch in der Stadt können Menschen einsam sein, trotz vermeintlich vieler Möglichkeiten und vergleichsweise guten Mobilitätsangeboten.
Zwischenzeitlich setzen 14 von 22 Landkreisen beziehungsweise kreisfreien Städten das Programm erfolgreich um.
Einsam sein ist nicht gleichzusetzen mit allein sein. Wie äußert sich Einsamkeit? Welche Personengruppen sind besonders gefährdet und welche Auswirkungen hat Einsamkeit?
Lassen Sie mich diesen Fragen aus wissenschaftlicher Perspektive nähern. Professorin Maike Luhmann, eine ausgewiesene Expertin auf diesem Gebiet, gibt in einer Expertise des Kompetenznetzes Einsamkeit eine, wie ich finde, gute Erklärung. Sie schreibt: „Laut der Definition von Perlman und Peplau (…) entsteht Einsamkeit, wenn die tatsächlichen Beziehungen nicht den gewünschten Beziehungen entsprechen. Dieser Abgleich zwischen tatsächlichen und gewünschten Beziehungen kann nun je nach Beziehungsform anders ausfallen.“
Die Forschung zeigt, dass Einsamkeitserfahrungen jedoch nicht per se negativ zu betrachten sind. Sie müssen nicht um jeden Preis verhindert werden, da die Fähigkeit, Einsamkeit zu empfinden, einerseits anpassungsfähig ist und zudem ein wirkungsvolles Warnsignal sein kann, weil es Menschen dazu motiviert, wieder mehr in ihre sozialen Beziehungen zu investieren.
Weiterhin schreibt Luhmann: „Problematisch ist vor allem die chronische Einsamkeit. Es wäre wünschenswert, wenn diese differenzierte Sichtweise in der öffentlichen Kommunikation und in der Entwicklung von Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Einsamkeit berücksichtigt würde. Wird Einsamkeit öffentlich als eine normale und sogar nützliche Erfahrung dargestellt, die zum Leben dazugehört, könnte dies möglicherweise sogar dazu beitragen, das Stigma der Einsamkeit etwas abzubauen. Gleichzeitig kann eine genauere Kenntnis des Prozesses der Chronifizierung die Entwicklung von passgenauen und wirksamen Maßnahmen gegen Einsamkeit begünstigen.“
Die Erfahrungen, die seit der Implementierung von AGATHE 2021 gemacht werden konnten, wurden im Rahmen einer wissenschaftlichen Evaluierung von April 2023 bis April 2024 von einem externen Institut überprüft. So viel kann ich sagen: AGATHE wirkt!
Seit einigen Jahren gibt es in Thüringen das Programm AGATHE. Es richtet sich an alleinlebende Seniorinnen und Senioren. Beschreiben Sie doch bitte einmal, wie man sich das vorstellen kann und welche konkreten Angebote es beinhaltet.
Im Programm AGATHE beraten ausgebildete Fachkräfte ältere Menschen ab 63 Jahren, welche allein im eigenen Haushalt leben, individuell, um Auswege aus Einsamkeit beziehungsweise Isolation aufzuzeigen oder ihr vorzubeugen. Ziel ist es, im Rahmen von individuellen Hausbesuchen einen präventiven, vorpflegerischen und niedrigschwelligen Ansatz für „gesundes Altern“ in der Gemeinschaft vorzuhalten.
Diese Vorgehensweise setzt voraus, dass die Beratungsfachkräfte sehr genau darüber Bescheid wissen, welche Leistungen und Aktivitäten vor Ort wo angeboten werden. Wird ein weißer Fleck entdeckt, wird dieser an Sozialplanende zurückgespiegelt. Häufen sich Defizite, sollen diese innerhalb von integrierten Sozialplanungsprozessen bearbeitet werden.
AGATHE knüpft dabei an bestehende Strukturen vor Ort, wie beispielsweise Pflegestützpunkte, Besuchsdienste, an das Quartiersmanagement, ehrenamtliche Netzwerke etc., an. Es ist ausdrücklich gewünscht, dass Kooperationen und Synergien entstehen, die der Weiterentwicklung der seniorenrelevanten Infrastruktur vor Ort dienen.
Die landesweite Steuerung und Koordinierung von AGATHE erfolgt durch das für Seniorenpolitik zuständige Ministerium. Die Umsetzung innerhalb der Gebietskörperschaften erfolgt durch den jeweiligen Landkreis beziehungsweise die jeweilige kreisfreie Stadt.
Im Jahr 2023 wurden circa 9.500 Hausbesuche und 14.200 Gespräche (Erst- und Folgeberatungen) in unterschiedlichen Settings geführt. Das Ranking der Themen, zu denen Seniorinnen und Senioren Fragen an die Beratungsfachkräfte richten, stellt sich folgendermaßen dar: 1. Gesundheit, 2. Pflege, 3. soziale Kontakte, 4. Mobilität, 5. Behörden, 6. Nahversorgung, 7. Krisen und 8. Wohnen.
Wissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass zunehmend auch jüngere Menschen unter Einsamkeit leiden. Zentraler Treiber hierfür war die Corona-Pandemie. Nichtsdestotrotz sind die Zahlen weiterhin hoch. Gibt es deshalb auch für jüngere Menschen in Thüringen Unterstützungsangebote beziehungsweise sind diese geplant?
Im Rahmen des Austausches, welchen wir mit dem Bundesfamilienministerium zum Thema Einsamkeit regelmäßig pflegen, habe ich Kenntnis zu dieser Problemstellung erlangt. Auch in den Medien wird ja dazu berichtet. Meiner Kenntnis nach sind jüngere Menschen durch die Pandemie sogar noch stärker von Einsamkeit betroffen als ältere. Sie scheinen im Vergleich hier also weniger resilient zu sein.
Die 19. Shell Jugendstudie, welche im Oktober 2024 veröffentlicht wurde, fokussiert das Thema auch als einen Teilbereich.
In meinem Referat liegt der Fokus ausschließlich auf der Einsamkeit im Alter. Daher habe ich keine Kenntnis darüber, ob es für Jugendliche ähnliche Ansätze wie AGATHE gibt beziehungsweise inwieweit hier Interventionen geplant sind. Sinnvoll wären sie aber allemal.
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