„Ein zunehmend wichtiger Faktor für Regionen ist das gesellschaftliche Klima vor Ort“Experteninterview
Professor Sebastian Henn ist Lehrstuhlinhaber für Wirtschaftsgeographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er forscht unter anderem dazu, wie räumliche Mobilität die Entstehung und den Transfer von Wissen beeinflusst und analysiert die Unterschiede in der Entwicklungsdynamik von Städten und Regionen. Im Interview berichtet er vom Zusammenspiel aus demografischem Wandel, regionaler Entwicklung und Globalisierung sowie den sich hieraus ergebenden Chancen für Thüringen.
Wie ist die aktuelle wirtschaftliche Situation in Thüringen und was hat sich in den letzten Jahren verändert? Welche regionalen Muster gibt es?
Thüringen hat, sieht man einmal von kleineren Einbußen in der Corona-Zeit und im Jahr 2023 ab, in den vergangenen Jahren in nahezu allen Bereichen ein teils beachtliches wirtschaftliches Wachstum erfahren, das sich auch statistisch in steigenden Einkommen aufseiten der erwerbstätigen Bevölkerung abbildet. Die Arbeitslosenquote ist in den vergangenen zehn Jahren deutlich gesunken und liegt inzwischen etwa auf Bundesniveau. Allerdings weist Thüringen im Bundesländervergleich das geringste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf.
Die regionalen Unterschiede der wirtschaftlichen Entwicklung sind beträchtlich: Jena sticht seit langem als der zentrale Wachstumskern heraus, was vor allem auf die dort vorhandene Konzentration an erfolgreichen und wachstumsstarken High-Tech-Unternehmen zurückzuführen ist. Auch Erfurt und Weimar sowie Gotha und Eisenach haben sich in Bezug auf die Bruttowertschöpfung und das Beschäftigtenwachstum vergleichsweise gut entwickelt. Andere Regionen aber, wie Suhl, Gera aber auch das Altenburger Land oder Nordhausen, um einige zu nennen, stehen weiterhin vor beträchtlichen Herausforderungen. Diese Entwicklung birgt Risiken, weil sie Kräfte freisetzen kann, die diese Unterschiede weiter verstärken können – etwa wenn Personen aus weniger wachstumsstarken Räumen abwandern.
Welche Zusammenhänge sehen Sie zur demografischen Situation in Thüringen? Wie bedingt sich gegebenenfalls beides gegenseitig?
Die demografische Situation stellt den Freistaat in wirtschaftlicher Sicht gleich mehrfach vor sehr große Herausforderungen. Um die Bevölkerung im Freistaat konstant zu halten, müsste jede Frau im gebärfähigen Alter statistisch gesehen etwas mehr als zwei Kinder bekommen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Daher ist die sogenannte natürliche Bevölkerungsbewegung, also die Veränderung der Bevölkerungszahl infolge von Geburten und Sterbefällen, zurzeit deutlich negativ. Mit anderen Worten sterben im Freistaat jährlich mehr Menschen als geboren werden.
Ohne Zuwanderung wird die Bevölkerung langfristig also stark abnehmen. Dies aber wiederum hat zur Folge, dass immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen – in sehr vielen wirtschaftlichen Bereichen und vor allem im ländlichen Raum. Aus wirtschaftlicher Perspektive ist dies ungünstig, weil Unternehmen mit weniger Arbeitskräften nicht diejenigen Mengen an Gütern produzieren könnten, die sie hypothetisch herstellen könnten. Auch die Betriebsnachfolge darf nicht außer Acht gelassen werden. Es wird also immer schwieriger, Personen zu finden, die thüringische Unternehmen übernehmen könnten, wenn deren Besitzer altersbedingt aus dem Betrieb ausscheiden. Schon heute treten diese Herausforderungen offenkundig zu Tage. Allen Prognosen zufolge werden sie in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen. Die einzige Lösung sehe ich in der gezielten Anwerbung dringend vor Ort benötigter Fachkräfte aus anderen Regionen Deutschlands und dem Ausland.
Welche Handlungsempfehlungen haben Sie und welche realistischen Perspektiven gibt es für Thüringen, um junge engagierte Menschen auch jenseits der Großstädte anzuziehen? Geht das nur über die Ansiedlung großer Unternehmen oder was sind mögliche Alternativen?
Prinzipiell wird es schwierig sein, Großansiedlungen jenseits der Großstädte zu realisieren, weil Unternehmen auf eine gute Verkehrsanbindung, digitale Infrastruktur, verfügbare Fachkräfte, ein wirtschaftliches Umfeld mit anderen Unternehmen und weitere Faktoren angewiesen sind – all das findet man im ländlichen Raum typischerweise nur eingeschränkt. Dies soll aber keineswegs heißen, dass die ländlichen Räume Thüringens keine Zukunft hätten. Ganz im Gegenteil: Gerade für junge Arbeitnehmer und auch Familien sind Regionen abseits der Großstädte oftmals sehr attraktiv, vor allem, weil die Wohnkosten deutlich niedriger ausfallen und weil man dort naturnah leben kann. Da ihre Arbeitsplätze oftmals in den nahegelegenen Großstädten liegen, hängt deren Gewinnung davon ab, inwiefern es gelingt, eine zufriedenstellende Verkehrsanbindung sicherzustellen, Betreuungsmöglichkeiten für Kinder bereitzustellen und Freizeitangebote vor Ort zu schaffen.
Neben potenziellen Zuziehenden sollte man aber natürlich auch diejenigen Jugendlichen nicht vergessen, die vor Ort aufgewachsen sind und für die – neben der Anbindung an den öffentlichen Verkehr sowie die digitale Infrastruktur – vor allem Beschäftigungsmöglichkeiten, aber auch Bildungs- und Freizeitangebote eine wichtige Rolle spielen.
Ein zunehmend wichtiger Faktor für die Attraktivität ländlicher Regionen ist das gesellschaftliche Klima vor Ort – also die Frage, ob sich junge Menschen dort langfristig wohlfühlen können. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Unzufriedenheit im ländlichen Raum besonders hoch ist. Dies aber kann ein Klima schaffen, das für junge Leute wenig attraktiv ist. Wenn man diesen Punkt ernst nimmt, wird es künftig vor allem darum gehen müssen, die Emotionen der auf dem Land lebenden Bevölkerung besser zu verstehen und mit politischen Maßnahmen zu adressieren, vor allem aber ländliche Räume insgesamt stärker in den Blick zu nehmen.
Welche Chancen sehen Sie für die regionale und wirtschaftliche Entwicklung Thüringens in den nächsten Jahren, auch mit Blick auf die Globalisierung?
Ich bin sicher, dass es gelingen kann, die Erfolgsgeschichte Thüringens auch in der Zukunft fortzuschreiben. Gerade wenn man sich die in Erfurt und Jena in den letzten Jahren getätigten Großinvestitionen anschaut, gibt es allen Anlass, optimistisch zu sein, vor allem, was die Entwicklung dieser beiden Städte anbelangt. Weniger optimistisch bin ich im Hinblick auf die bereits vorhandenen regionalen Unterschiede zwischen den sehr erfolgreichen Regionen Thüringens und anderen Regionen, insbesondere dem ländlichen Raum, von denen ich fürchte, dass sie sich weiter vergrößern könnten. In der Fachwissenschaft bezeichnen wir dies als eine Zunahme regionaler Disparitäten oder auch als regionale Polarisierung. Hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf, gerade auch, wenn wir verhindern wollen, dass die Unzufriedenheit der Bevölkerung im ländlichen Raum weiterwächst.
Ein weiteres Handlungsfeld betrifft die Internationalisierung der Wirtschaft. Zwar steht Thüringen vergleichsweise gut dar, wenn man einen Blick über den regionalen Tellerrand wagt. So gibt es etwa zahlreiche Weltmarktführer. Auch hat das Exportvolumen der thüringischen Unternehmen seit der Wiedervereinigung sehr deutlich zugenommen, insbesondere in andere europäische Volkswirtschaften und die sich dynamisch entwickelnden asiatischen Märkte. Zudem ist die Zahl ausländischer Unternehmen angewachsen, was auf eine steigende Standortattraktivität und eine zunehmende globale Vernetzung der thüringischen Wirtschaft hinweist. Im Vergleich gerade mit westdeutschen Bundesländern bleibt die wirtschaftliche Internationalisierung Thüringens aber doch erheblich zurück. Im Wesentlichen ist das darauf zurückzuführen, dass die thüringische Wirtschaft von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägt ist, denen es oftmals an Wissen und Kapazitäten über fremde Märkte mangelt. Dies wird bereits heute durch verschiedene Aktivitäten, etwa der Landesentwicklungsgesellschaft, sehr gezielt und erfolgreich adressiert. Auch künftig wird es eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, Thüringen weiter auf Wachstumskurs zu halten.
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