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Rede von Bundespräsident Joachim Gauck am 31. März 2015 zu neuen Altersbildern in einer Gesellschaft des längeren Lebens anlässlich der Ausstellungseröffnung „Dialog mit der Zeit“ in Berlin
„Dialog mit der Zeit“ – was für ein schöner Titel für eine Ausstellung über die Kunst des Alterns. Hier im Kommunikationsmuseum habe ich gerade erlebt: Man kann den demographischen Wandel tatsächlich so konkret, so persönlich, so interessant machen, dass bei den Besuchern Lust auf ein Gespräch entsteht.
Die Ausstellung beflügelt einen der wichtigsten Dialoge überhaupt – den Dialog der Generationen. In Frankfurt am Main ist dieses Konzept bereits aufgegangen. Ich wünsche den Erfindern, Partnern und Förderern der Ausstellung, dass sie nun auch in Berlin ein großes Publikum erreichen werden.
Wer die Debatte über den demographischen Wandel verfolgt, liest immer wieder die These, mit dem Älterwerden seien nicht nur Risiken, sondern auch Chancen verbunden. Die Tatsache, dass die meisten von uns heute älter werden können als ihre Eltern und Großeltern, erscheint dann aber meist als Problem. Diskutiert wird vor allem das Management von Defiziten: der Ärztemangel auf dem Land, der drohende Pflegenotstand oder die Engpässe in unseren Sozialkassen.
Es ist ja richtig: Probleme können entstehen, wo nur noch wenige junge Menschen nachwachsen, wo die Älteren sich dann auf sich gestellt sehen. Solche Schwierigkeiten dürfen nicht ausgeblendet werden. Gerade die großen ethischen Fragen zur Selbstbestimmung bis hin zum Umgang mit Grenzsituationen wie Demenz und Sterben – all das fordert unsere Aufmerksamkeit.
Zugleich sollten wir uns aber vermehrt den Möglichkeiten der gewonnenen Jahre zuwenden. Lassen Sie uns das Alter bewusster neu denken – in Bildern vom Alter und vom Älterwerden, die auch die Potentiale dieser Lebensspanne beschreiben. Dann kann es uns gelingen, aus einer alternden Gesellschaft noch stärker eine selbstbestimmte und starke Gesellschaft des längeren Lebens zu formen.
Wie das geschehen kann und welche Veränderungen für einzelne Menschen, aber auch in Gesellschaft und Politik notwendig sind, darüber möchte ich heute sprechen.
Bewusst oder unbewusst setzen viele das Älterwerden nur mit Verfall und Verlust gleich und übertragen diese Vorstellung dann automatisch auf die Gesellschaft. Die Logik lautet:
Wie der Einzelne seine Leistungsfähigkeit in den höheren Jahren einbüßt, so wird auch unsere Gesellschaft insgesamt schwächer, wenn ihr Durchschnittsalter steigt, wenn die Zahl älterer Menschen zunimmt und wenn der Anteil der Jüngeren schrumpft.
Diese These ist, jedenfalls in ihrer Pauschalität, falsch. Ihr anzuhängen, ist fatal, denn sie kann zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Im ungünstigsten Fall plant ein ganzes Land seine Zukunft in düsteren Farben. Deshalb ist es so wichtig, überholte Vorstellungen vom Alter grundlegend in Frage zu stellen.
Lassen Sie mich mit dem Individuum beginnen. Wohl die meisten von uns kennen das Bild von der Lebenstreppe. Der Augsburger Jörg Breu der Jüngere hat es schon 1540 als Holzschnitt verewigt. Während der folgenden Jahrhunderte griffen etliche Künstler das Motiv auf. Die Treppe beginnt unten links mit der ersten Stufe, mit einem spielenden Kind, Sinnbild des ersten Lebensjahrzehnts und der Jugend, der Phase des Lernens und der Vorbereitung auf das „eigentliche Leben“. Mit zwanzig folgen junge Liebe und Heirat, mit dreißig sind die eigenen Kinder da, mit vierzig der berufliche Erfolg, mit fünfzig der Höhepunkt des Lebens – meistens verkörpert durch einen stattlichen Mann mit Anzug und Zylinder. Danach geht es nur noch abwärts. Sechzig, siebzig, achtzig und neunzig zeigen bloß noch ein einziges Thema: die fortschreitende Hinfälligkeit und Vergreisung. Das Alter erscheint nur noch als Phase der Ruhe und des Abschiednehmens.
Das Bild vom Abstieg auf der Lebenstreppe prägt bis heute unsere Vorstellung vom Alter, obwohl sich viele Tatsachen inzwischen deutlich verändert haben – auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse, die unsere Perspektive korrigieren könnten, gibt es zur Genüge. Das beginnt mit der Lebenserwartung, die in Industrieländern wie Deutschland in den vergangenen 100 Jahren um rund dreißig Jahre gestiegen ist. Zivilisatorische Errungenschaften haben es ermöglicht: die wirtschaftliche Entwicklung, bessere Ernährung und Wohnbedingungen, persönliche Vorsorge und ein leistungsfähigeres Gesundheitswesen, mehr Bildung und weniger körperlich belastende Arbeit.
Diese Entwicklung hat einen doppelten Effekt. Wir werden nicht nur immer älter, sondern bleiben auch länger gesund. Gesundheitlich betrachtet ist ein 70-jähriger Mensch heute – im Vergleich zur Vorgängergeneration – erst sechzig Jahre alt. Hinzu kommt: Die geistige Leistungsfähigkeit älterer Menschen ist von Generation zu Generation deutlich gestiegen. Alternsforscher haben nachgewiesen, dass bei aktiver Lebensweise nicht nur die körperliche, sondern auch die geistige Fitness länger aufrechterhalten werden kann. Das heißt, wir können die Biologie zwar nicht ausschalten, wir können jedoch die eigene Entwicklung positiv beeinflussen, und das in einem stärkeren Maße, als lange Zeit angenommen.
Die Lebenstreppe früherer Jahrhunderte bildet die Realität also längst nicht mehr ab. Aber die neue Wirklichkeit ist in unserer Vorstellungswelt und teilweise auch in unserem gesetzlichen Regelwerk noch nicht richtig angekommen. Tatsache ist: Für die meisten von uns geht es ab fünfzig nicht unaufhaltsam abwärts. Es folgt eher ein Hochplateau, eine früher sehr seltene Lebensphase in guter körperlicher und mentaler Verfassung, die persönliches Fortkommen oder Neuorientierung ermöglicht. Die Wissenschaft sagt uns: Als Individuen haben wir die Möglichkeit, diese Hochplateau-Zeit auszudehnen. Und als Gesellschaft haben wir es in der Hand, die Chancen dieser Lebensphase möglichst vielen zu eröffnen. Wenn wir rechtzeitig handeln, muss eine Gesellschaft des längeren Lebens eingeschränkte Potenzen nicht deuten als eine Gesellschaft ohne Potentiale.
Was also ist zu tun? Die erste Konsequenz muss heißen: Beim demographischen Wandel geht es nicht allein um die gewonnenen Jahre und die Belange älterer Menschen. Altern beginnt bei der Geburt. Wir müssen das verlängerte Leben insgesamt in den Blick nehmen. Und wir müssen die Lebenszeit neu strukturieren. Wir brauchen neue Muster für lange Lebensläufe, neue Verflechtungen von Lernen, Arbeit und Privatem.
Das beginnt schon im Kindergarten, in der Schule. Wie bereitet man junge Menschen auf eine Zukunft vor, in der immer mehr dreistellige Geburtstage gefeiert werden? Wenn wir deutlich länger leben, dann darf Lernen nicht nur bis vierzig oder fünfzig, sondern muss bis sechzig, siebzig und darüber hinaus möglich sein – auch unter Menschen mit wenig Ausbildung in der Jugend. Zudem: Wenn wir weniger werden, kommt es mehr denn je auf die Güte der Bildung und auf die Entwicklungschancen jedes Einzelnen an. Und in der Einwanderungsgesellschaft gilt: Wir müssen allen Menschen, die bei uns leben, die Möglichkeit zur Teilhabe und zum sozialen Aufstieg eröffnen.
Auch hier kann uns eine neue Vorstellung vom Alterungsprozess helfen. Früher ähnelte die bekannteste Graphik der Bevölkerungsstatistik einer Zwiebel – in der Mitte die stärksten Jahrgänge. Heute gleicht die Graphik eher einem Pilz. Der Geburtenrückgang seit den 1960ern hat die unteren Jahrgänge deutlich ausgedünnt. Oben prangt derzeit der Schirm mit den Alten. Wer dieses Bild vor Augen hat, versteht: Wenn der Stamm des Pilzes dünn ist, muss er zugleich sehr stabil sein, um den Schirm tragen zu können. Mehr denn je stehen wir vor der Aufgabe, dafür zu sorgen, dass in unserem Bildungssystem niemand verloren geht. Gerade wenn in den kommenden Jahren der Anteil der Jüngeren in der Arbeitswelt sinkt, sollte jeder seinen produktiven Platz finden, und niemand darf hinter seinen Möglichkeiten zurückbleiben.
Zugleich wird die Lebensspanne, die uns nach der Schule erwartet, immer länger und die Halbwertzeit des Wissens immer kürzer. Experten empfehlen deshalb eine neue Lernkultur, einen Ansatz, der früh vermittelt, dass es nicht nur um das Reproduzieren von Antworten auf Prüfungsfragen geht, sondern vor allem um die langfristige persönliche Entwicklung. Wer an den Pilz aus der Bevölkerungsstatistik denkt, kommt auch nicht um die Einsicht herum: Die lange lebende muss zur lange lernenden Gesellschaft werden. Es geht um eine neue Einstellung zum Lernen, aber auch um Neugier in einem längeren Leben. Es geht zugleich um neue Anreize und institutionelle Lösungen, wo die alten Modelle nicht mehr tragen.
Wir stehen damit auch vor der Aufgabe, Berufsbiographien so zu verändern, dass der Einzelne lange leistungs- und anpassungsfähig bleibt – und unsere Gesellschaft produktiv. Die neue Verflechtung von Lernen, Arbeit und Privatem soll unser Land wettbewerbsfähig halten und jedem Einzelnen so viele Optionen wie möglich eröffnen – Optionen für ein erfülltes Dasein. Forscher gehen davon aus, dass auch dieser Prozess früh beginnen muss. Der bei weitem wichtigste Einflussfaktor ist Abwechslung im Berufsleben, besonders für Menschen mit einfachen, sich stark wiederholenden Tätigkeiten. Mehr Abwechslung würde Arbeitnehmern ermöglichen, gesünder alt zu werden und länger leistungsfähig zu bleiben. Studien zeigen: Körper und Geist bleiben umso länger vital, je vielfältiger die Berufsbiographie ist. Vielfach kann ein Wechsel alle paar Jahre, sei es ein Wechsel der Aufgabe im Unternehmen oder gar des Berufes, schädliche Routine vermeiden helfen.
Daraus folgt zum einen die Notwendigkeit, die berufliche Weiterbildung anzupassen. Dozenten müssten sich darauf einstellen, dass Lernende aller Altersgruppen vor ihnen sitzen. Zum anderen müsste unser Arbeitsmarkt erheblich durchlässiger werden. Arbeiten in Deutschland ist ja oft mit der Erwartung verbunden, sich in einem begrenzten Berufsfeld auf vorgezeichneten Pfaden möglichst geradlinig fortzuentwickeln. Wer einen Beruf gelernt oder ein Fachstudium absolviert hat, soll im gleichen Bereich seine Stelle finden und später dort vielleicht befördert werden. Branchen- oder Berufswechsel, freiwillige Neuanfänge gar, sind bei uns eher die Ausnahme. Der demographische Wandel schafft Gründe und wohl bald auch den nötigen Druck, um das zu ändern. Für viele verbindet sich damit die Hoffnung, dass der steigende Fachkräftebedarf die Arbeitswelt modernisiert und dem Einzelnen größere Freiräume in der Gestaltung seines Erwerbslebens verschafft. Ich glaube: Wir sollten diese Entwicklung nicht abwarten, sondern die Einsicht aktiv fördern, dass sich Fähigkeiten zwischen Berufen und Branchen übertragen lassen, und dass alle einen Nutzen davon haben.
Auch die Verteilung von Arbeitszeit im Lebenslauf und tradierte Beförderungsmuster sind grundsätzlich zu überdenken. Es muss nicht dabei bleiben, dass vierzig als magisches Alter für den Aufstieg gilt. Motto: Wer es bis dahin nicht geschafft hat, kann einpacken. Es muss auch nicht dabei bleiben, dass junge Eltern in der sogenannten „Rush Hour“ des Lebens, zwischen dreißig und vierzig, mit Kindern und Karriere systematisch überfordert werden. Auch mit fünfzig oder sechzig kann man aufsteigen und Führungspositionen erreichen. Eine der wichtigsten Botschaften des demographischen Wandels heißt doch: Wir gewinnen Lebenszeit. Es geht darum, diese Zeit sinnvoll zu nutzen und zu verteilen.
Das beginnt schon mit der Benennung dieser Abschnitte. Irreführende, jedenfalls sehr einseitige Assoziationen weckt zum Beispiel das Wort „Ruhestand“. Für Mediziner beschreibt Ruhestand das genaue Gegenteil von dem, was sie uns für das Alter empfehlen: Aktivität, körperlich wie mental. Wer möglichst gesund altern will, der soll beweglich bleiben, Routinen abstreifen, Neues wagen. Wo existieren denn noch die klassischen Bilder von Pantoffeln und „verdienter Ruhe“ und Gemütlichkeit? Sie funktionieren nicht in einer Gesellschaft, in der es nicht mehr um die „letzten Jahre“, sondern oft um Jahrzehnte geht, die nach dem Renteneintritt folgen. Das neue Alter entsteht vor unseren Augen, aber in Umfragen zeigen viele Menschen immer noch die Neigung, ihre Erwartungen an das Älterwerden an den eigenen Großeltern zu orientieren.
Mentalitätswandel braucht Zeit, und er verläuft nicht immer geradlinig. Die Werbebranche zeichnet ein anderes, aber aus naheliegenden Gründen ebenfalls einseitiges Bild: Die fitten und fröhlichen Alten, so genannte Best Ager, erobern die Welt wie einen großen Vergnügungspark, mit Elektrofahrrad oder Yogamatte. Es fehlt eine ausgewogene Vorstellung davon, dass ältere Menschen nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten in unserer Gesellschaft sein können – und sein wollen! Es fehlt der Gedanke, dass es den meisten ein großes Bedürfnis ist, gebraucht zu werden, tätig zu sein, etwas beizutragen. Kurz, es fehlen die unzähligen Erfahrungen derer, die im vorgerückten Alter erfüllenden Aktivitäten nachgehen. Alter bietet die Freiheit, genau das zu tun! Familien, Nachbarschaften und Ehrenämter können von dieser Freiheit profitieren, und sie tun es bereits in großer Zahl. Warum nicht auch unsere Unternehmen?
Wer dieser Frage nachgeht, muss sehr verschiedene Positionen und Perspektiven berücksichtigen. Dazu gehört der viel zitierte Dachdecker, der aus gesundheitlichen Gründen mit fünfzig sagt: „Ich kann die Arbeit in meinem erlernten Beruf nicht mehr leisten.“ An diesem Beispiel wird die Notwenigkeit des Wandels unserer Arbeitswelt besonders deutlich. Wie kann der gelernte Dachdecker künftig noch viele Jahre lang am Erwerbsleben teilhaben, seine Fähigkeiten einbringen, ohne noch aufs Dach zu müssen? Vielleicht kann er Ziegel ordern und verkaufen, statt sie selbst zu verlegen. Vielleicht kann er sein Wissen über Geschäftsabläufe und Projekte an einer anderen Stelle im Unternehmen einsetzen. Oder vielleicht kann er seine Fertigkeiten der nächsten Generation weitergeben und sich in der Ausbildung der Jugend engagieren. Alternativen braucht auch die Erzieherin, die nach dreißig Berufsjahren im turbulenten Kindergarten woanders neu anfangen will. Warum nicht in einem Mehrgenerationenhaus? Oder schauen wir auf die sogenannten Space Cowboys, sie haben schon heute ihre Nische für ein aktives Alter gefunden: Ehemalige Mitarbeiter eines deutschen Autoherstellers werden ins Unternehmen zurückgeholt, um jüngere Kollegen bei der Entwicklung neuer Produkte zu unterstützen. Den Innovationsgeist der Jugend ergänzt der ältere Experte durch seine langjährige Erfahrung. Wir wissen längst: Das ist eine produktive Mischung.
Sind wir als Gesellschaft bereit, für die große Bandbreite an Möglichkeiten im Alter eine entsprechend große Bandbreite an Gestaltungsoptionen vorzuhalten?
Im Koalitionsvertrag wurde 2013 notiert: „Ältere Beschäftige sind unverzichtbar im Arbeitsleben. […] Wir werden den rechtlichen Rahmen für flexiblere Übergänge vom Erwerbsleben in den Ruhestand verbessern.“
Die Legislaturperiode ist bekanntlich noch lange nicht zu Ende. Ich fürchte allerdings, dass die Diskussion über dieses Thema allzu schleppend verläuft und der nötige Wandel der Arbeitswelt noch nicht entschlossen genug vorangetrieben wird.
Dabei betrifft diese Aufgabe uns alle: die Bürgerinnen und Bürger, die Gemeinde- und Landespolitiker, vor allem aber den Bundesgesetzgeber und die Tarifpartner als Gestalter der wichtigsten Altersgrenze – des Eintritts in die Rente. In Deutschland ist die gesetzliche Rente bislang ausgerichtet, ein Ende zu definieren, keinen Übergang. In anderen Ländern gibt es durchaus offenere Konzepte. Deutschland steht noch am Anfang dieser Debatte.
Immerhin, einige konkrete Vorschläge liegen auf dem Tisch, beispielsweise eine Version von Teilzeit, in diesem Fall für Alte. Fünfzig oder siebzig Prozent der üblichen Wochenarbeitszeit könnten für beide Seiten ein Gewinn sein: Der Arbeitgeber profitiert von der Reife und der Urteilskraft der Älteren. Der Arbeitnehmer leistet so viele Stunden, wie er möchte und seine Gesundheit oder seine anderen Vorhaben, etwa die Betreuung der Enkelkinder, es zulassen.
Flexible Renteneintrittsgrenzen und das Sozialstaatsprinzip dürfen kein Widerspruch sein. Auch hier sind uns althergebrachte Bilder noch im Weg. Die Vorstellung von der Arbeit als Last stammt oft noch aus frühen Phasen der Industriegesellschaft, als schwerste körperliche Arbeit die Regel war. Wo es diese auch heute noch gibt, wo also in der Industrie oder etwa im Pflegebereich Menschen an ihre körperlichen Grenzen kommen, sind sie zu schützen oder wirksam zu entlasten. Andererseits kennen wir heute, in der Wissensgesellschaft mit ihren veränderten Arbeitsbedingungen auch in industriellen Bereichen, eine Vielzahl von Arbeitsplätzen, die im Alter nicht als Bürde empfunden werden, sondern als gewünschte Fortsetzung eines aktiven, selbstbestimmten Lebens.
Deshalb möchte ich dazu einladen, umzudenken und dem gewandelten Lebensgefühl vieler Menschen besser Rechnung zu tragen. Was wir brauchen, ist eine neue Lebenslaufpolitik! Der Staat steht in der Pflicht, die ganze Bandbreite von denkbaren Szenarien im Alter zu berücksichtigen. Es geht also einerseits darum, Menschen vor Überforderung zu schützen, andererseits auch darum, jenen, die es wollen, Möglichkeiten zu eröffnen, sich einzubringen.
Alle Politikfelder sind deshalb gefordert. Bildung und Arbeit habe ich schon genannt, Gesundheit, Wohnen, Infrastruktur und viele weitere müsste man hinzufügen. Wir werden dem demographischen Wandel nur gerecht, wenn wir uns der Komplexität der Aufgabe stellen und wenn wir lernen, politisch in größeren Zeiträumen zu denken, nicht nur in Legislaturperioden. Eine Gesellschaft des längeren Lebens braucht eine Politik des längeren Atems!
Unsere Gesellschaft braucht in meinen Augen noch etwas: enge persönliche Beziehungen. Und zwar zwischen Menschen aller Altersgruppen. Nur wenn sich Alt und Jung begegnen, können wir einen der schwierigsten Dialoge führen: das Gespräch über längeres Leben und die dennoch unausweichliche Endlichkeit unserer Existenz. Aus meiner früheren Arbeit als Seelsorger weiß ich, wie sehr es Menschen belasten kann, wenn sie sich in ihren letzten Jahren nur noch als hilfsbedürftig, nur noch als passiv empfinden. Und wie kostbar ihnen der Augenblick ist, in dem sie sagen können: Ich habe bis zum Schluss getan, was ich konnte. Ich habe mein Leben gelebt.
Eine der wichtigsten Botschaften dieser Ausstellung lautet: Selbstbestimmung im hohen Alter ist ein unschätzbares Gut. Wir sollten die Selbstbestimmung fördern, wo immer wir können. Zugleich gilt aber auch: Der Mensch verliert seinen Wert und seine Würde nicht, wenn er nicht mehr autonom handeln und entscheiden kann, sondern auf andere angewiesen ist. Vielleicht können wir Hilflosigkeit besser ertragen, wenn wir uns eingestehen: Jeder Mensch ist in zwei Phasen des Lebens auf besondere Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen – ganz am Anfang und ganz am Schluss. Bei einem Neugeborenen fällt es uns leicht, die Abhängigkeit als etwas ganz Natürliches und als natürliche Verpflichtung für das Umfeld zu begreifen. Dieses Selbstverständnis müssen wir für die letzte Phase erst noch erringen – jeder für sich und unsere Gesellschaft insgesamt.
Auch wenn es uns schwerfällt: Ich begrüße es sehr, dass so sensible Themen inzwischen intensiver diskutiert werden. Und ich begrüße es, dass hier im Museum für Kommunikation für solche Fragen Raum geschaffen wurde, dass ganz gezielt das Gespräch der Alten mit den Jungen gefördert wird. Ich habe selbst Kinder, Enkel und Urenkel. Schon um ihretwillen möchte ich Bundesgenosse all jener sein, die für einen Perspektivwechsel und zugleich für einen Interessenausgleich der Generationen eintreten. Ich fürchte allerdings, dass der gern verwandte Begriff der Generationengerechtigkeit dabei in die Irre führen könnte. Denn auch in ihm schwingt ein Zerrbild mit, die Vorstellung vom Kampf um Gerechtigkeit. Davon sind wir heute glücklicherweise weit entfernt. Die familiären Beziehungen in Deutschland sind gut und belastbar. Eltern unterstützen ihre Kinder und Großeltern ihre Enkel.
Allerdings werden wir beweisen müssen, dass unsere Gesellschaft auch dann noch solidarisch bleibt, wenn sich das zahlenmäßige Verhältnis von Großeltern, Kindern und Enkeln weiter verändert. Wenn Interessen unter neuen Mehrheitsverhältnissen demokratisch auszuhandeln sind. Wenn immer mehr Alte auf Unterstützung jenseits der eigenen Familie angewiesen sind. Deshalb ist mir das Bild der Generationenbegegnung so wichtig – die Verständigung darüber, was wir voneinander erhoffen und erwarten, was wir voneinander wissen sollten und voneinander lernen können, nicht zuletzt, welche Konflikte wir austragen müssen.
Wer Anschauung sucht, ist in Städten wie Arnsberg gut aufgehoben, wo ich kürzlich zu Gast war. Dort stellt man sich mit Hilfe kommunaler Programme gezielt auf die länger lebende Gesellschaft ein und übt den Generationendialog im Alltag. Gemeinsame Freizeitangebote, Nachbarschaftshilfe, alterssensibler Wohnungs- und Städtebau: All das funktioniert in Arnsberg und auch schon in vielen anderen Gemeinden, weil Politik, Unternehmen und Freiwillige sich zusammengetan haben, weil sie Ziele definieren, Konflikte aushandeln und knappe Ressourcen nach klaren Prioritäten einsetzen. Dazu gehört zum Beispiel der Leitsatz, dass ehrenamtliches Engagement die nötigen hauptamtlichen Strukturen braucht, damit der gute Wille nicht ins Leere läuft.
Die „sorgende Gemeinschaft“ ist mir als Schlüsselbegriff von meinem Besuch in Arnsberg im Gedächtnis geblieben. Sie beschreibt ein Umdenken, das in immer mehr Kommunen stattfindet und das ich sehr befürworte. Es geht dabei nicht um modernen Paternalismus, sondern um gemeinsam getragene Verantwortung in einer Zeit, in der sich Lebens- und Familienmodelle stark ändern, in der wir neue Konzepte brauchen, um das Miteinander gedeihlich zu organisieren.
Wer die sorgende Gemeinschaft konsequent zu Ende denkt, der muss auch über Chancengerechtigkeit im Altern sprechen. Auch die beginnt oder scheitert von klein auf. Wer arm ist – ob an Bildung oder Geld – hat nachweislich eine niedrigere Lebenserwartung. Derzeit beträgt die Differenz in Deutschland bis zu acht Jahre im Vergleich zu gebildeteren, wohlhabenderen Gruppen. Acht Jahre! Die Gründe dafür sind vielschichtig. Die Konsequenz lässt sich für mich jedoch in einem Satz zusammenfassen: Wir müssen alles dafür tun, dass alle Menschen – egal in welche sozialen Umstände hineingeboren – gute Chancen auf ein langes und gesundes Leben haben.
Wenn ich mich hier im Museum für Kommunikation umsehe, wird mir klar: Ich muss nicht weit reisen, um engagierte Botschafter für Veränderungen zu finden. Sie sitzen vor mir.
Sie zum Beispiel, liebe Senior Guides der Ausstellung, Frauen und Männer ab siebzig, die sich bereiterklärt haben, Schulklassen und Gruppen aller Art durch die Räume zu führen. Sie sind weit mehr als erklärende Begleiter. Sie sind Zeugen eines neuen Alters. Ich möchte Ihnen ausdrücklich dafür danken, dass Sie dieses Experiment, diesen „Dialog mit der Zeit“ wagen!
Ich freue mich, dass Sie in den kommenden Monaten Gästen jeden Alters vermitteln werden, was auch mir in meiner heutigen Rede besonders wichtig war:
Die zusätzlichen Jahre sind ein großes Geschenk in den Gesellschaften, in denen kultureller Fortschritt Wirklichkeit geworden ist.
Es liegt an uns, dieses Geschenk verantwortungsvoll anzunehmen und zu gestalten.
Es liegt an uns, Lebenszeit neu zu erkennen, neu zu bewerten und neu aus ihr zu schöpfen.
(Quelle: Bundespräsidialamt)
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