„Bewegung wird immer noch wahnsinnig unterschätzt“Experteninterview
Wer seine Chancen erhöhen will, gesund älter zu werden, sollte sich regelmäßig bewegen. Sportvereine können dabei eine wichtige Rolle spielen und zugleich für den sozialen Kitt in einer immer älter werdenden Gesellschaft sorgen, sagt Professor Dr. Ansgar Thiel, Leiter des Instituts für Sportwissenschaft an der Universität Tübingen. Thiel empfiehlt den Vereinen allerdings, entsprechende Kurse oder Gruppen nicht mit „Ü50“ zu überschreiben. Dafür sei die Altersgruppe viel zu heterogen. „Gerade die fitteren Älteren kann man mit solchen Angeboten nicht locken“, sagt er. Zudem sollten die Vereine neben den klassischen Sportspielen mit festen Trainingszeiten ihre Angebote für Ältere im Fitness- und Gesundheitssport flexibel halten, um möglichst viele Menschen anzusprechen – so wie das zum Beispiel in Sportvereinszentren geschieht.
Herr Thiel, Mediziner sagen gerne, dass sportlich gesehen mit 50 das Alter anfängt. Sehen Sie das auch so?
Nein, eigentlich nicht.
Dann also eher mit 60?
Ich möchte mich gar nicht auf ein bestimmtes Alterfestlegen, meiner Meinung nach gibt es keine klare Grenze. Denn je älter die Menschen werden, desto heterogener wird die Gruppe. Manche fühlen sich mit 50 schon alt, andere gar nicht. Der amerikanische Musiker
Lenny Kravitz ist 54 Jahre alt und steht wie ein junger Hüpfer auf der Bühne. Oder nehmen Sie Campino. Würden Sie sagen, dass der Sänger der Toten Hosen mit seinen 56 Jahren wie ein alter Mann wirkt?
Nein. Aber sind die beiden denn typisch für diese Altersgruppe?
Nicht für die ganze Gruppe, eben weil sie so heterogen ist. Manche Menschen leiden im Alter von Kravitz oder Campino an schweren Krankheiten oder sind nicht mehr so mobil wie früher. Aber es gibt auch Leute, die mit 40 das erste Mal Marathon trainieren und ihn mit 50 unter drei Stunden laufen.
Aber manche Fähigkeiten lassen im Alter eben auch nach.
Schon. Aber gerade im Alter um die 60 Jahre haben wir eine sehr große Streuung bei den motorischen Fähigkeiten, bei den Frauen wie bei den Männern. Das hängt sehr stark von den individuellen Vorerfahrungen ab, also etwa ob jemand schon lange Sport treibt und regelmäßig trainiert. Außerdem verändern sich unsere motorischen Fähigkeiten sehr unterschiedlich, wie die Wissenschaft zeigt. Ein 70-Jähriger kann zum Beispiel genauso lernen, drei Bälle zu jonglieren, wie ein 25-Jähriger. Die Gleichgewichtsfähigkeit geht dagegen ab dem Alter von 20 Jahren linear nach unten. Die Handkraft ist wiederum zwischen 25 und 50 Jahren ungefähr gleich hoch, während die Kraft der Beinstrecker im gleichen Zeitraum deutlich abnimmt. Einzelne Bereiche des Organismus scheinen sich also nicht in gleichem Maße zu verändern.
Was passiert denn dann, wenn der ambitionierte, aber schon etwas ältere Marathonläufer in seinen Verein kommt und ein Kursangebot mit dem Titel „Ü50“ sieht, zum Beispiel „Ü50-Fitness für Männer“?
Dann wird er sich nicht angesprochen fühlen oder sogar abgeschreckt. Gerade die fitteren Älteren kann man mit solchen Angeboten nicht locken.
Dann sollten Vereine solche Titel also am besten gar nicht verwenden?
Genau, sie tun es aber immer noch viel zu häufig, obwohl sich die Menschen sehr unterscheiden in ihrem psychischen Alter, ihrem sozialen Alter, ihrem Lebensstil und sogar in ihrem biologischen Alter. Der eine kleidet sich jugendlich, ist noch topfit – siehe Campino – und will ein anspruchsvolles Fitnesstraining, der andere hat bereits körperliche Beschwerden und will es eher behutsam angehen lassen. „Ü50“-Angebote werden also weder der Differenziertheit dieser Altersgruppe gerecht, noch sagen sie etwas über den Inhalt der Kurse aus.
Neben den körperlichen Faktoren: Was bestimmt ansonsten das Altern?
Ein Aspekt, der bei diesem Thema häufig vergessen wird, ist das Bild, das jemand davon hat. Wir wissen aus der Forschung, dass Menschen, die das Alter positiv sehen, im Schnitt gesünder sind und länger leben. Das kann man damit erklären, dass sie sich auch gesundheitsbewusster verhalten als andere. Das Gleiche gilt, wenn sich Menschen bestimmte Projekte für die Zeit als Rentner oder Pensionär vornehmen. Hat man solche Pläne, tut man automatisch mehr dafür, sie umsetzen zu können.
Wie wird man denn auf möglichst gesunde Art älter?
Der zentrale Faktor ist Bewegung. Man weiß aus der Wissenschaft, dass körperliche Aktivität auch viel wichtiger ist als Ernährung. Dennoch wird Bewegung in unserer Gesellschaft immer noch wahnsinnig unterschätzt. Dabei muss man nur mal Menschen, die sehr alt werden, nach ihrer Biographie fragen. Die haben sich in aller Regel immer viel bewegt. Deshalb sollte man den Menschen sagen: Sei jeden Tag viel unterwegs. Gehe so viel zu Fuß, wie es möglich ist. Trainiere die Muskulatur.
Was gehört noch zum gesunden Altern?
Herzliche Beziehungen und Kontakte zu anderen Menschen. Außerdem ist es gut, wenn man sich Ziele setzt und die Überzeugung hat, auch im fortgeschrittenen Alter noch etwas tun und erreichen zu können.
Bewegung, Ziele und gute soziale Kontakte: Das alles kann man auch im Sportverein finden. Welche Rolle spielt der organisierte Sport tatsächlich für die Gesunderhaltung der Bevölkerung?
Grundsätzlich eine wichtige, denn im Sportverein wird Sport getrieben und das ist erst einmal gut. Allerdings sind gerade die Babyboomer, also die Jahrgänge vom Ende der 1950er bis zum Ende der 1960er Jahre, nicht sehr bereit, in einen Verein zu gehen. Früher ging man dorthin, weil man die Gemeinschaft suchte, heute denken Menschen eher funktional. Sie besuchen also ein Studio, um ihre Fitness zu trainieren, und gehen dann wieder nach Hause. Deshalb können die Vereine in ihren Abteilungen zwar weiterhin die klassischen Sportspiele mit festen Trainingszeiten organisieren, andere Angebote wie Fitness und Gesundheitssport müssen aber flexibel sein, sonst kommen die Leute nicht.
Was heißt das konkret?
Ein gutes Beispiel sind die Sportvereinszentren, in denen auch ältere Menschen sehr individuell trainieren können. Die Vereine sollten hier aber zur Bedingung machen, dass sie zumindest bei einer regelmäßigen Nutzung Mitglieder werden müssen. Sonst sind sie irgendwann wieder weg. Gelingt es aber, sie zu halten, können sie bei entsprechenden Angeboten auch mit anderen Mitgliedern gemeinsam Sport treiben. Das wäre für ihre Gesundheit gut, aber auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Der Sportverein kann also auch für den Kitt der Gesellschaft sorgen.
Ja, absolut. Ich halte den Sportverein in dieser Hinsicht für extrem relevant. Wir brauchen Organisationen, die Menschen in dieser hochgradig individualisierten Welt zusammenbinden, das ist kein Selbstläufer mehr. Der Sportverein ist eine der wenigen Organisationen, die das können. Dazu kommt, dass der Staat in absehbarer Zeit nicht mehr solche sozialen und gesundheitlichen Leistungen erbringen kann, wie das heute noch der Fall ist. Das heißt dass die Gesellschaft mehr auf Selbsthilfe angewiesen ist. Sie muss soziale Netzwerke bilden, in denen der eine dem anderen hilft. Dafür ist der Sportverein prädestiniert. Er muss allerdings die Leute auf allen nur möglichen Kanälen ansprechen, sich also auch den neuen Medien öffnen und aktuelle Technologien wie Smartphones und Apps nutzen, um sie zu erreichen. Er muss also mehr als Sport bieten.
Würden Sie zusammenfassend zustimmen, dass sich das Bild vom Alter in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert hat?
Ja. Ich selbst bin Mitte fünfzig und war im vergangenen Jahr mit meinen beiden Töchtern bei einem Konzert des früheren Pink-Floyd-Bassisten Roger Waters, der 75 Jahre alt ist. Dass 16-Jährige zu einem Rock-Konzert eines 75-Jährigen wollen, wäre vor 30 oder 40 Jahren noch kaum denkbar gewesen. Aber auch nicht, dass 75-Jährige Rock-Stars sind. Leute wie Waters sagen sich: Ich gehe noch auf die Bühne und warte nicht zu Hause, bis der Sargdeckel zufällt. Das ist eine ganz andere Vorstellung vom Alter. Man muss aber etwas dafür tun, um es lange gesund zu erleben. Dabei ist Bewegung der wichtigste Faktor.
Das Interview führte Matthias Jung.
Dieses Interview erschien zuerst in der Broschüre „Aktiv älter werden - Demografie und Sport. Projekte, Anregungen. Praxisbeispiele“ des Württembergischen Landessportbunds e.V. im März 2019.
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